„Wir wolln hier ran, ihr habt lange genug Zeit gehabt, hier einzukaufen“
Ein Interview von Benedikt Lehmann (Klasse 10a) mit Frau Hunger (Lehrerin für Geschichte und Deutsch).
„Unten in der Karl-Marx-Straße war eine Filiale der Sparkasse. Die Schlange der Menschen, die sich ihr Begrüßungsgeld abholen wollten, zog sich bis hier nach oben auf die Höhe der Schule. Auf der Karl-Marx-Straße war die Hölle los: Überall standen fliegende Händler, die einen mit Kisten voller Bananen, andere mit billigen Kofferradios, die manchmal nicht einmal den Weg nach Hause überstanden. Die Bürger, die aus dem Osten gekommen waren, wurden abgezockt ohne Ende. Sie hatten mit so etwas keine Erfahrung. Die hätten mal lieber auf ihren Karl-Eduard von Schnitzler hören sollen, der immer sagte „Auch im Westen ist nicht alles Gold,was glänzt“. Karl-Eduard von Schnitzler war der bekannteste DDR-Fernsehjournalist, dessen Hauptfeind die Bundesrepublik war.
Am neunten November 1989 wurden die Grenze in Berlin geöffnet. Die Zukunft war zu diesem Zeitpunkt noch unklar erklärte die damals 40-jährige Marianne Hunger, die im „Westen“, also in West-Berlin lebte. Andeutungen auf die Ereignisse am Abend des neunten Novembers gab es jedoch schon früher. So die Demonstrationen, die ab Oktober in Leipzig stattfanden oder die kurzzeitige Grenzöffnung im September 1989 in Ungarn. Dennoch war die damalige ADO-Lehrerin sehr verblüfft, als die Grenze dann schließlich geöffnet wurde. Damals befürchtete sie, dass die Revolution mit Panzern beendet werden könne, da dies für sie die wahrscheinlichere Lösung aus Sicht der DDR-Führung war. Umso mehr war sie erstaunt, dass eine friedliche Revolution erstmals erfolgreich gelang. Natürlich ist Frau Hunger auch in den Ost-Teil der Stadt gegangen, jedoch war es zu diesem Zeitpunkt noch niemanden klar, dass die Öffnung der Grenze zur Wiedervereinigung Deutschlands führen würde. Deshalb war man im „Westen“ zwar sehr neugierig, den Ost-Teil zu besuchen um sich dort umzuschauen.
Obwohl Vieles im Osten den Vorstellungen Frau Hungers entsprach, war das Gefühl, sich auf der der Seite zu befinden, die man sonst nur in der Ferne sehen und über die nur im Radio oder Fernsehen berichtet werden konnte, überwältigend für sie. Frau Hunger blieben einige Erlebnisse in Erinnerung: So als sie das erste Mal Unter den Linden spazieren ging, was sich allerdings erst später nach der Maueröffnung ereignete. Viele Menschen wollten sich am Abend des 9.11.89 und in der unmittelbaren Zeit danach ein Stück aus der Berliner Mauer sichern, um es als Andenken zu behalten. Daher gab es unzählige sogenannte „Mauerspechte“, die mit Hammer und Meißel versuchten, sich ein Stück Stein aus der Berliner Mauer abzuschlagen. DDR-Bürger fuhren mit ihren Trabis, während feiernde Bürger freudig auf die Dächer der Autos klopften, über die Grenze in die Bundesrepublik. Alles strömte in den „Westen“. In den ersten Tagen nach dem Mauerfall fühlten Frau Hunger und auch viele andere West-Berliner sich von den Ost-Berlinern, die möglichst viel erleben und ausprobieren wollten, manchmal etwas eingeengt.
Am Wochenende nach dem Mauerfall war samstags Schule. Somit musste auch Frau Hunger in die Schule. Sie erzählte von überfüllten Zügen, da jeder in die Stadt wollte und Richtung Mitte fuhr. So erlebte Marianne Hunger also den Mauerfall am neunten November 1989 und die Zeit danach.
Doch wie war ihr Leben vor dem Mauerfall, zumal sie an einer Schule Politik und Geschichte unterrichtete, die nah an der Berliner Mauer lag?
In der Schule hatte man sich vor dem neunten November nur wenig über die Deutsche Demokratische Republik unterhalten. Außer einem Systemvergleich zwischen der Bundesrepublik und der DDR, der immerhin ein ganzes Semester in der Oberstufe umfasste, war weiter kein Inhalt im Lehrplan vorgesehen. Bei diesem Systemvergleich wurde vor allem die soziale Sicherheit beider Systeme verglichen.
Frau Hunger investierte pro Woche immer eine Unterrichtsstunde im Fach Geschichte, um aktuelle Themen mit ihren Schülern zu besprechen. Doch auch hier wurden interessantere Themen besprochen, die für die Schüler interessanter erschienen als die Beziehung der beiden deutschen Staaten. Selbst unter den Schülern wurde nur wenig über den „Osten“ gesprochen. Auch Schulausflüge in den „Osten“ gab es erst nach dem Mauerfall.
Dies lag vermutlich daran, dass viel über die DDR bekannt war. Zum einen war es Menschen aus dem „Westen“ möglich in den Osten zu reisen, anders als für „Ossis“, die nur in Ausnahmen in den „Westen“ reisen durften. Deswegen erfuhr man von diesen Menschen viel über den „Osten“. Zum anderen waren die Grenzen in Berlin noch bis 1961 geöffnet, was bedeutete, dass die Grenze zu diesem Zeitpunkt noch nicht so stark bewacht war. Darüber hinaus gab es viele so genannte. „Grenzgänger“, die im „Westen“ arbeiteten, aber in der DDR wohnten. Außerdem gab es einige Sender, die über das Leben in der DDR berichteten, wenn auch nicht ohne eine kritische politische Tendenz.
Frau Hunger hatte sich zudem Fachliteratur über die DDR beschafft und sah einige Aspekte der DDR-Gesellschaft kritisch, wie z.B. das Schulsystem. Während die Kinder in der Bundesrepublik zu selbstständig denkenden Menschen werden sollten, war aus der Sicht von Frau Hunger, die Schule in der DDR von Disziplin und Leistungsdruck geprägt. So mussten einige Lehrer, die nach der Wende in die Bundesrepublik gekommen waren, sich weiterbilden. Die Schule in der ehemaligen DDR wurde nach dem Mauerfall nach westlichen Vorstellungen umgestaltet. Frau Hunger erzählt von einigen Kollegen, die damals nach der Wende aus der ehemaligen DDR an die ADO gekommen waren. Sie beschrieb diese Lehrer als sehr freundlich und sie bekam mit, dass die Schulen und die Lehrer in der DDR viel besser ausgestattet waren. Der Staat hatte ihnen z. B. im naturwissenschaftlichen Bereich viel mehr Geld für die Beschaffung von Unterrichtsmaterialien bereitgestellt. So gab es im Bereich des Sport in der DDR auch eine Vielzahl von Sportgeräten, Turnhallen und Sportplätzen. Daraus lässt sich schließen, dass die Schule in der DDR einen hohen Stellenwert hatte. Da die Kinder größtenteils in der Schule erzogen wurden, gab sich die DDR hier besonders viel Mühe, die kommenden Generationen nach ihren Vorstellungen zu erziehen.
Das Abrecht-Dürer-Gymnasium lag damals sehr nah an der Grenze zu Ost-Berlin, allerdings kamen nach der Wende nicht viele neue Schüler auf diese Schule.
Über den Geheimdienst der DDR, die Staatssicherheit (Stasi), waren nur wenige Fakten bekannt. Erst nach dem Mauerfall wurden stückchenweise nähere Informationen über die
Grausamkeiten bekannt, die man den Menschen in der DDR angetan hatte. Dies schockte viele Menschen in der Bundesrepublik, wo Witze über die Stasi keine Seltenheit waren. Man witzelte über den in einen grauen Mantel gehüllten Mann mit Hut und Aktentasche. Doch obwohl die Stasi alles und jeden überwachte, brachte es ihr im Endeffekt nichts, bemerkt Frau Hunger lächelnd. Das sehe ich jedoch etwas anders. Es stimmt zwar, dass die Stasi den „Untergang“ der DDR nicht verhindern konnte, jedoch ist es kein Geheimnis, das die Stasi 30 Jahre lang Schrecken und Angst verbreitete und Menschen folterte und auch ermordete. Dass Frau Hunger merkte aber an, dass das Treiben der Stasi nicht nur lächerlich war – und auch ihr selbst bekannt (wie z. B. Entführungen oder bekannt gewordene „Unfälle“) – betonte aber, dass die Stasi den Untergang der DDR nicht verhindern konnte.
Sowohl die Gesellschaft als auch die Wirtschaft der DDR mussten sich nach dem Mauerfall ändern, was Frau Hunger schon damals klar war. Sie wusste, dass es in der DDR fast keine Arbeitslosigkeit gab. Die soziale Sicherheit war, da sie durch den Staat geregelt wurde, sehr groß und Grundnahrungsmittel waren in der DDR günstig. Somit befürchtete sie, dass nach dem Mauerfall viele Menschen aus Ost-Berlin arbeitslos werden würden.
Frau Hunger erzählt, dass viele Menschen in der DDR nicht so begeistert über den Mauerfall waren, da sie ein stabiles Leben hatten, solange sie sich nicht gegen den Staat auflehnten. Zwar gab es in der DDR weniger Konsumgüter zu kaufen, man musste gute Kontakte haben, um an bestimmte Dinge zu gelangen. Aber am Ende bekam man Vieles durch Tauschhandel. Das wiederum stärke den Zusammenhalt der Menschen.
Außerdem befürchtete sie, dass der Rechts- und Linksradikalismus in Ost-Berlin und Ost-Deutschland enorm ansteigen würde, da die Jugend aus dem „Osten“, die Freiheit des „Westens“ nicht gewöhnt war. In der Bundesrepublik gab es eine Parteienvielfalt, eine Versammlungsfreiheit und dementsprechend auch schon mehr links- und mehr rechtsorientierte Gruppierungen. Die Jugend aus der DDR bekam in den ersten Jahren nach der Wende oft auch von ihren Eltern keine Regeln oder Vorschriften, da diese selbst, oft auch arbeitslos, mit dieser neuen Freiheit nicht zurechtkamen. Ihre Befürchtung bewahrheitete sich: In den ersten fünf Jahren nach der Wiedervereinigung musste der Ost-Teil von Deutschland gegen unzählige rechts- und linksradikale Vereinigungen vorgehen.
Marianne Hunger hoffte, dass mit dem Mauerfall endlich ein Ende des Kalten Krieges beginnen würde, jedoch erkannte sie später, dass es in Deutschlands zur Zeit des Kalten Krieges „sicherer“ gewesen war. Sie fürchtete, da es nun keine zwei Lager mit klar definierten Grenzen mehr gab, die sich gegenüberstanden, dass das Konfliktpotential bedeutend höher sein könne. Marianne Hunger stellte sich z. B. die Frage, wie der damalige Finanzminister der Bundesrepublik, Theo Waigel, behaupten könne, die Wiedervereinigung sei aus der Portokasse zu bezahlen.
Doch Marianne Hunger freute sich auch, dass sich die politische Lage zwischen Ost- und West-Berlin nun endlich entspannte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Frau Hunger selbstverständlich erfreut über den Mauerfall war, allerdings den Folgen des Mauerfalls sowohl für die Ost-Berliner als auch wie in der Überschrift erwähnt, für die West-Berliner kritisch entgegenblickte. Sie befürchtete einerseits, dass die Wirtschaft im Osten zusammenbrechen und somit Tausende arbeitslos machen würde. Dass viel Geld in die sofortige Abwickelung von Betrieben gesteckt wurde, um somit jene als Konkurrenten auszuschalten, anstatt diese zu retten oder behutsamer umzustrukturieren, beurteilt sie heute von der Bundesrepublik voreilig durchgeführt. Hätte man sich damit Zeit gelassen, wären vielleicht nicht so viele Menschen arbeitslos geworden.
Andererseits war sie von den „unerfahrenen“ Ost-Berliner irritiert, die sich oft Minderwertiges andrehen ließen und die Straßen vor den Banken blockierten, um sich ihr Begrüßungsgeld abzuholen. Sie waren so neugierig die Vorzüge der freien Marktwirtschaft auszuprobieren, dass sie für manche West-Berliner manchmal als etwas anstrengend wahrgenommen wurden. Die in der Überschrift geschilderte Situation, dass Menschen aus dem „Osten“, nach dem Mauerfall nach West-Berlin gekommen waren um dort einzukaufen, ist ein passendes Beispiel dafür. Sie drängelten sich mit dem Vorwand vor, dass die Menschen in der Bundesrepublik genug Zeit gehabt hatten, in den Supermärkten einzukaufen und jetzt, nachdem die Mauer gefallen war, das Recht besitzen, hier als Erste einkaufen zu gehen. An Frau Hungers Leben änderte sich nach dem Mauerfall nur sehr wenig. Heute hat sie auch Familie im „Osten“.