„Na, heute schon wen erschossen?“
Ein Interview von Linus Gefken (Klasse 9a) mit Herrn Preuß (Lehrer für Deutsch und Geschichte).
Der 9.11.1989 war für Deutschland einer der wichtigsten und Tage seiner Geschichte. Mit diesem Tag wurde nach langer Trennung ein erster Schritt zur Wiedervereinigung Deutschlands getan. Die Ausreise aus der DDR wurde erlaubt, und viele Menschen stürmten in die Bundesrepublik. Jeder, der diesen Tag miterlebt hat, ob nur im Fernsehen, aus der Ferne oder ob direkt bei der Öffnung dabei, kann sich noch heute genau daran erinnern, wo er sich zu dieser Zeit befand. Einer, der den Mauerfall noch sehr gut im Gedächtnis hat, weil er als Unteroffizier selbst die Schranken öffnete, ist Herr Preuß, heute Lehrer an der ADO, mit dem ich ein Interview führen konnte.
Herr Preuß war zum Zeitpunkt des Mauerfalls gerade zwanzig Jahre alt und verheiratet. Er lebte mit seiner Frau in einer Wohnung in Hohenschönhausen. Herr Preuß wurde als Sohn eines Offiziers geboren und wuchs in einem Wohnviertel außerhalb seiner Heimatstadt auf, in der nur Militärangehörige wohnten. Er wollte schon in der fünften Klasse Offizier werden und war auch lange Offiziersbewerber, bis er dann in der 11. Klasse entschied, Lehrer zu werden. Des Weiteren hatte er noch den Wunsch als Agent für die Staatssicherheit zu arbeiten, weil er eine sehr spannende Vorstellung davon hatte. Er hoffte sehr lange darauf, dass die Staatssicherheit sich melden würde, was sie letztendlich auch tat. Aber anders, als er gehofft hatte: Er sollte bei der Grenzkontrolle arbeiten. Er war sehr positiv zu diesem Angebot eingestellt, auch weil der Dienst an der Grenze mehr Vorteile hatte als der Grundwehrdienst als einfacher Soldat. Er hatte als junger Mann eine positive Einstellung zur DDR, da ihm der Grundgedanke einer Gesellschaft gefiel, in der es keine Ausbeutung und eine soziale Gerechtigkeit gab. Er mochte auch, dass man in der Oberstufe als Schüler 60 Mark im Monat als Förderung bekam. Er hatte aber auch einige Kritikpunkte an der DDR: So beispielsweise, dass man oft keine freie Entscheidung treffen konnte und dass man ständig überwacht und kontrolliert wurde. Er und seine Freunde hatten ein Udo-Lindenberg-Poster in ihrem Jugendclub aufgehängt, das mussten sie wieder abnehmen, weil dieser ein Musiker aus der Bundesrepublik war, trotz des Faktes, dass sie das Poster aus einer Ostzeitschrift hatten.
Die Dienstausbildung zum Unteroffizier an einem Grenzkontrollpunkt dauerte insgesamt fünf Monate. Am ersten Tag bekam er eine Führung durch die Grenzkontrollstelle, bei der ihm alles gezeigt und er sogar kurz zur entscheidenden Grenzlinie geführt wurde. Als er an der Grenze angekommen war, habe er ein starkes Verlangen gehabt hinüber zu gehen. Die Grenzkontrollstelle war so aufgebaut, dass man als erstes einer Pass- und Visakontrolle unterzogen wurde, danach wurde man zum Zoll geführt und dann wurde der Pass und die Identität noch einmal kontrolliert, der Pass gestempelt und, wenn nötig, ein Visum ausgestellt. Des Weiteren wurde der Ausweis unter eine Kamera gelegt und es wurde von anderen Offizieren in der Zentrale geprüft, ob die Staatssicherheit ein Interesse an der Person hatte. Außerdem war die Kontrollstelle so gebaut, sodass man bei einer Ein- und Ausreise mit dem Auto niemals hätte beschleunigen können, um mit hoher Geschwindigkeit die Grenze zu durchbrechen. Es gab eine besondere Spur nur für Diplomaten, über die gesagt wurde, dass in einem Gebäude neben der Spur ein großes Röntgengerät angebracht wäre, sodass man sichergehen konnte, dass die Diplomaten keine Menschen aus der DDR in ihren Autos schmuggelten. Die Spur war so angelegt, dass man nur eine Schranke passieren musste. An dieser musste das Fahrzeug stoppen, damit es insgeheim durchleuchtet werden konnte.
In die Ausbildung als Grenzsoldat war auch ein Kurs integriert, in dem man lernte, wie man Passfotos mit realen Personen vergleicht. Der Dienst an der Grenzübergangsstelle war eigentlich relativ ereignislos und weniger dramatisch als in vielen Dokumentationen dargestellt, es gab den bekannten Schießbefehl nicht in der Form, wie in vielen Filmen dargestellt, sondern es gab die Anweisung bei einem Fluchtversuch auf die Extremitäten zu zielen und die Menschen an der Flucht zu hindern und nach Möglichkeit nicht zu töten. In der ganzen Zeit, in der Herr Preuß an diesem Grenzübergang gearbeitet hatte, gab es nur zwei Fluchtversuche, die aber beide gescheitert waren. Herr Preuß musste auch nie auf Menschen schießen. Er hatte sich dies zum Grundsatz gemacht, obwohl das sowieso mit der ein Kilogramm schweren Makarov-Pistole schwer gewesen wäre.
Zu seinem Beruf gehörte ebenso das Schreiben von Berichten über auffällige Personen. Der Posten bei der STASI war für das soziale Umfeld und Leben eine große Beeinträchtigung, weil man alle Kontakte zum Westen abbrechen musste. Dies war insofern eine große Beeinträchtigung, weil seine Frau durch ihre guten Russischkenntnisse Sprach-Olympiaden besucht hatte und dadurch viele Kontakte auch ins Ausland hatte.
Der 9.11.1989 war nicht nur ein besonderer Tag, sondern es gab vorher bereits eine besondere Atmosphäre. In der Woche davor waren schon sehr viele Menschen auf den Straßen, weil vielen Menschen klar war, dass sich in der nächsten Zeit etwas passieren würde, sodass man teilweise nicht mehr mit dem Bus in der Stadt fahren konnte und zu Fuß gehen musste. An diesem Tag war aber auch schon den Mitarbeitern der Grenzkontrolle mittags klar, dass etwas passieren würde. Sie waren bereits um 12 Uhr angewiesen worden ihre Waffen wieder in die Waffenkammer zurückzubringen, weil es schon vielen Menschen bewusst war, dass etwas passieren würde.
Nach der Pressekonferenz, auf der vom Pressesprecher des höchsten politischen Gremium der DDR bekanntgegeben worden war, dass die Grenze geöffnet werden sollte, sammelten sich immer mehr Menschen an den Grenzübergangsstellen, sowohl von Ost als auch von West, und die Situation wurde immer brisanter. Herr Preuß´ Frau hatte keine Informationen, wieso er länger dableiben müsse, da es damals noch keine Handys gab und sie auch kein Telefon hatten. Wenn man kurz eine Nachricht überbringen wollte, musste man zu einer Telefonzelle oder ein Telegramm schicken. Des Weiteren gab es eine Informationssperre für die Wachhabenden, sodass sie nicht ihre Familien anrufen konnten und deswegen konnte seine Frau auch nicht direkt ihn anrufen, sondern hatte nur seinen Vorgesetzten gesprochen, der ihr nur sagen konnte, dass er trotz der eigentlichen Frühschicht auf unbestimmte Zeit länger bleiben müsse. Sie hatten aber schon einen Schwarz-Weiß-Fernseher, in dem seine Frau sehen konnte, dass sich immer mehr Menschen an der Grenze sammelten.
Es war eine sehr ausgelassene und befreiende Situation. und es gab nur ein paar direkte Anfeindungen oder Pöbeleien, was ungewöhnlich war, weil die Berliner immer eine Abneigung gegen die Grenzsoldaten hatten und über sie spotteten. Ein Beispiel hierfür war eine Situation, in der Herr Preuß in seiner Uniform von der Bushaltestelle an den Grenzübergang gelaufen ist. Dabei kam ihm ein Berliner entgegen, der ihn fragte: “Na, heute schon wen erschossen?“. Die Kontrolleure ignorierten diese Pöbeleien.
Bei den ersten Grenzüberquerern stempelten und kontrollierten die Wachhabenden sogar noch die Personalausweise und ließen die Leute geregelt die Grenze passieren. Doch ließen sie danach alle ungehindert passieren, weil es zu viele Menschen waren.
Die Ost-Berliner Grenzer feierte danach mit der West-Berliner Polizei, die auf der anderen Seite des Übergangs ein kleines Revier hatte. Es herrschte den ganzen Abend eine Stimmung von starker Euphorie und Erlösung.
Herr Preuß kam am nächsten Morgen erst nach einer über 24 Stunden andauernden Schicht nach Hause. Er ging kurz darauf mit seiner Frau nach West-Berlin und kaufte sich vom Begrüßungsgeld, 100 D-Mark, das jeder DDR-Bürger bekam, sobald er das erste Mal in den Westen kam, Schallplatten mit Westmusik.
Er wollte eigentlich danach seinen Dienst bei der Grenzübergangsstelle quittieren, doch sein Vorgesetzter riet ihm noch bis zum Februar dort zu dienen, weil damit seine Grundwehrdienstzeit abgeschlossen wäre. Außerdem hatte er seine Studienerlaubnis zum Lehrerberuf erst für den Herbst des Jahres 1990 bekommen und so, um bis dahin weiterhin Geld zu verdienen, setzte er seinen Dienst an der Grenze fort. Er zog danach mit seiner Frau durch einen Wohnungstausch nach Alt-Treptow. Herr Preuß führte aus, er habe keinen Kummer gespürt und gefühlt, als die DDR verschwunden ist. Es dominierte ein Gefühl von Möglichkeiten, er war ja noch jung und froh, jetzt doch noch zu studieren, endlich zu reisen, wohin er wollte. Er hatte ein Gefühl von grenzenlosem Optimismus. Das hat sich natürlich wieder geändert, aber er erinnert sich sehr gern an die zehn Jahre nach der Wende. Es waren die glücklichsten seines Lebens.