„Ich würde gerne wissen, wer von unseren Bekannten bei der Stasi war.“
Ein Interview von Ben Clemm (Klasse 9a) mit Frau Wolf (Lehrerin für Englisch und Deutsch).
„Die haben bei uns gekocht“, berichtete Frau Wolf. Das war ein Erlebnis, das ihr im Gedächtnis geblieben ist. Denn es gab nach der Wende eine Welle von Vertreter*innen, die in den Osten fuhren und dort allerlei Konsumgegenstände anboten. Zum Beispiel Staubsauger, Geschirr oder Töpfe. Dafür gingen die Vertreter*innen sogar in die Wohnung der potenziellen Kund*innen und kochten.
Eine ihrer ersten Begegnungen mit dem Westen war also, fremde Leute in der eigenen Küche zu haben, die ihnen etwas andrehen wollten.
Daniela Wolf wuchs in Ost-Berlin auf. Nach dem Mauerfall erfuhr sie durch Zufall aus einer im Internet veröffentlichten Liste, dass einige ihrer Verwandten bei der Staatssicherheit angestellt waren.
Diese Verwandten hatten niemals mit ihrer Familie über ihre Tätigkeit gesprochen. Daran merkt man, dass viele Menschen Angst vor den Vorurteilen und vorschnellen Urteilen haben, die durch das Anvertrauen dieser Informationen entstehen können.
Daniela Wolf, geboren im Jahr 1982, zum Zeitpunkt des Mauerfalls 7 Jahre alt, wuchs mit ihren Eltern in Ost-Berlin auf. Sie war stolze Jungpionierin und hatte in der Schule sehr gute Noten. Während der Teilung Deutschlandes, spielte die Mauer in ihrem Leben so gut wie gar keine Rolle. Ihre Eltern redeten damals wie heute nicht mit ihr über die Teilung Deutschlands. Eine der wenigen Erlebnisse, die mit der Mauer zu tun hatten, war ein Besuch bei Freunden, die direkt an dem Mauerstreifen wohnten. Aber auch da wusste sie nicht, was die Mauer eigentlich war. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie dort nicht aus dem Fenster gucken sollte und dass dort draußen etwas Böses sei.
Sie studierte in Potsdam Englisch und Deutsch auf Lehramt. Dort traf sie auf einige offensichtlich westdeutsche Kommilitonen. Diese machten sich über die „so ostige“ Bauart der Häuser lustig und deswegen machte sich bei ihr eine Art von Unbehagen gegenüber den „Westlern“ breit. Als sie erfuhr ,wo sie ihr Referendariat machen sollte sagte sie wörtlich: „Oh, ich muss ja in den Westen!“ Sie absolvierte ihr Referendariat am Albrecht-Dürer-Gymnasium und bemerkte, dass sie mit dem durchmischten Kollegium der ADO gut zurechtkam und zwischen den „Ostlern und Westlern“ gar nicht so ein großer Unterschied bestand. Sie fühlt sich, nach wie vor, an der ADO wohl. Nach dem Referendariat bekam sie eine Stelle an der ADO und arbeitete seither in Neukölln. Dies war ihre erste beständige Konfrontation mit dem „Westen“.
Der Mauerfall spielte für ihr damaliges Leben keine große Rolle, da sie erst sieben Jahre alt war. Aus heutiger Sicht verurteilt sie die Mauer aber, und ist froh, dass sie noch so jung war und nicht mit der Spaltung des eigenen Heimatlandes zurechtkommen musste. Die Gespräche in ihrer Familie über die Vorwendezeit kamen vor wenigen Jahren in Gang und endeten teilweise in hitzigen Debatten. Frau Wolf denkt, dass es erst noch eine weitere Generation geben muss, um über dieses Thema vernünftig reden zu können.
In ihrer Jugend war die (Haus-) Gemeinschaft sehr wichtig. Man saß alle paar Wochen zusammen, man feierte Feste zusammen und man passte aufeinander auf. Sie hatte keinerlei Verwandte im Westen und daher kannte sie auch so gut wie gar keine Konsumgegenstände, wie sie z. B. durch so geannten „Westpakete“ in die Familien in der DDR kamen.
Sie erinnert sich noch, dass sie am ersten Tag nach dem Mauerfall mit ihren Eltern mit der U-Bahn nach West-Berlin fuhr. Zum Halleschen Tor. Dort besuchte sie ein Hertie-Kaufhaus und erlebte einen gigantischen Kulturschock. Sie war überwältigt von den ganzen Angeboten und suchte sich ein Kuscheltier, eine Wende-Katze, aus. Außerdem aß sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Milchschnitte. Ihr Vater, der ein großer Fan der Rolling Stones war, kaufte sich Konzertkarten und ihre Mutter etwas „Praktisches“. So war für jeden etwas dabei. Eine weitere, der wenigen Erinnerungen an die Wendezeit war, dass sie erst nach dem Mauerfall bemerkte, wie heruntergekommen und grau die Häuser im Osten waren. Auf der Straße sah man nun auch Punks und rote Autos, die vorher nicht da waren.
Sie bemerkte, dass nach dem Mauerfall, auch der Zerfall der Gemeinschaft und des Zusammenhalts begann, der in der DDR und vor allem in ihrer Umgebung geherrscht hatte. Dies beschrieb sie mit ihren Worten: „Wenn man wenig hat, dann verbringt man mehr Zeit mit anderen.“ Viele Menschen aus ihrem Bekanntenkreis zogen weg. Zeit für die anderen hatten nun alle weniger, dafür aber alle ein neues Auto, neue CDs und Markenklamotten.
Sie bemerkte auch, dass unmittelbar nach der Wende der Schulleiter ihrer damaligen Schule gewechselt wurde. So wie viele Menschen, die nach der Wende ihren Arbeitsplatz verloren. Für ihren Vater war das Ende der DDR ebenfalls ein schwerer Schlag, da die DDR ein System war, an das er geglaubt hatte und er außerdem seinen Arbeitsplatz als Personenschützer für die Staatssicherheit verlor. Für ihre Mutter verlief die Zeit nach dem Mauerfall seichter, da sie ihren alten Beruf weiterhin ausüben konnte. Trotzdem ist es für sie immer noch schwer über die DDR zu sprechen.
Über das politische System und vor allem über die Staatssicherheit sprach man damals wie heute nicht. Vor allem nicht darüber, wer bei der Staatssicherheit war.
Sie hatte eines Tages ein Gespräch mit ihrem Cousin, der zu ihr wörtlich sagte: „Ich würde gerne wissen, wer von unseren Bekannten und Verwandten bei der Stasi war.“ Er sprach aber nicht über sich selbst. Es war ein sehr merkwürdiges Gespräch, denn Frau Wolf wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, dass dieser auf der Fipro-Liste (im Internet veröffentlichte Liste derjenigen, die ein Gehalt von der Staatssicherheit erhielten) stand, weil er während seines Wehrdienstes Angehöriger des Wachregiments der DDR war. Bis heute hat sie ihn darauf nicht angesprochen. Sie sagt dazu, dass sie keine passende Situation gefunden hat, in der sie gut mit ihm darüber reden konnte. Das zeigt, dass wir immer noch, auch in unserer eigenen Familie, Themen haben, über die man nicht reden kann und die sozusagen tabu sind. Und das heißt, dass wir in unserer Gesellschaft und in unserem privaten Leben Räume schaffen müssen, für alle, die sich nicht trauen, über bestimmte Themen zu sprechen, weil sie Angst vor den Konsequenzen haben. Und auch für alle, um schwierige Themen anzusprechen. Schweigen muss verhindert werden. Denn durch Schweigen werden Fehler immer und immer wieder begangen. „Wer die Vergangenheit vergisst, ist verdammt sie zu wiederholen“, sagte George Santayana, ein spanischer Philosoph und Schriftsteller. Fast jeder Mensch sollte sich aussprechen dürfen ohne Angst zu haben vorschnell dafür verurteilt zu werden.
Deswegen brauchen wir mehr solche Projekte an Schulen oder anderen öffentlichen Stellen, durch die Menschen Wissen erlangen, welches für jede stabile Gesellschaft existenziell ist.
Dieser Text soll zeigen, dass es immer noch viele Menschen gibt, denen Dinge passiert sind, über die sie nicht reden wollen oder können. Deswegen muss es noch mehr Aufklärung und Akzeptanz in unserer heutigen Gesellschaft geben.