Seit dem 30. Jahrestag der Wiedervereinigung am 03.Oktober 2020 reden wieder alle über Ost- und Westdeutschland. Doch gibt es wirklich nur diese zwei Perspektiven?
In diesem Text möchte ich die sogenannte dritte Perspektive ansprechen, die der Immigrant*innen, Ausländer*innen, People of Color und damaligen Gastarbeitern*innen. Ab 1950 kamen sowohl in die DDR als auch in die BRD Gastarbeiter*innen, geplant für höchstens drei Jahre. Die DDR brauchte Arbeitskräfte, da immer mehr Menschen flüchteten, bis zum Bau der Mauer 1961 insgesamt ca. 3,4 Millionen Bürger*innen. Die BRD hingegen brauchte Arbeitskräfte, da sie ab 1950 das sogenannte „Wirtschaftswunder“ erlebte. Die DDR unterzeichnete ein Abkommen mit Arbeitskräften aus Polen, Ungarn, Algerien, Mosambik und Vietnam. Zusätzlich vereinbarte sie eine „Arbeitskooperation“ im Rahmen der „sozialistischen Bruderhilfe“ mit den Ländern Angola, Kuba, der Sowjetunion, Bulgarien, Jugoslawien und Nicaragua. Die BRD unterzeichnete ein „Anwerbeabkommen“ mit den Ländern Italien, Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien, Spanien, Griechenland, Südkorea und Jugoslawien.
Durch das Rotationsprinzip gab es von Seiten der einheimischen Bürger sowohl in der DDR als auch in der BRD nur wenige Bemühungen die Gastarbeiter*innen kennenzulernen, zusätzlich war dies in der DDR auch vom Staat unerwünscht.
Anfangs durften die Familienangehörigen der Gastarbeiter*innen weder in die DDR und noch in die BRD nachziehen. Später wurde dieses Gesetz in der BRD geändert, da weiterhin ein hoher Bedarf an Arbeitskräften bestand und somit die Aufenthaltsgenehmigungen verlängert wurden. So kam es dazu, dass die Gastarbeiter*innen sich entscheiden konnten, ob sie zurück in ihr Heimatland gingen oder in Deutschland blieben. Viele gründeten Familien und bekamen Kinder, wodurch die Bevölkerung zunahm. Zwischen 1950 und 1973 kamen 14 Millionen Menschen in die BRD zum Arbeiten, 11 Millionen Menschen kehrten zurück in Ihre Heimat.
Als dann 1990 die Wende kam, waren die Gastarbeiter*innen, Immigrant*innen, Ausländer*innen und People of Color Bürger dritter Klasse. Sie waren unerwünscht und wurden aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Als Arbeitskräfte wurden sie nicht mehr gebraucht, was für die Immigrant*innen, Ausländer*innen und People of Color zur Arbeitslosigkeit führte – wie auch für viele andere in der ehemaligen DDR. Die bis dahin unterdrückte Ausländerfeindlichkeit brach offen zu Tage.
Durch die Entwurzelung und Orientierungslosigkeit der ostdeutschen Jugendlichen konnte eine offene rechte Jugend entstehen. Nach der Wende wurden Immigrant*innen gejagt, verprügelt, angezündet und erschossen. Schon neun Wochen nach der Wende gab es das erste Todesopfer. Der 28-jährige Amadeu Antonio Kiowa, ein Vertragsarbeiter aus Angola, wurde von mindestens 50 Personen durch Eberswalde gejagt und zusammengeschlagen, während die Polizei anwesend war, aber lange nicht eingriff. Weitere bekannte Übergriffe gab es in Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992), die Brandanschläge in Mölln (1992) und Solingen (1993) und die tödliche „Hetzjagd von Guben“ (1999).
Nicht nur die politisch rechts orientierten Menschen waren rassistisch und fremdenfeindlich, bei Anschlägen wie Rostock-Lichtenhagen haben sogar die „normalen Bürger“ den rechten Angreifern von Ihren Balkonen aus zugejubelt und applaudiert. Die Wende war also auch ein rassistischer Wendepunkt.
Ich finde, wir sollten Deutschland nicht dafür feiern, dass nach der Wiedervereinigung Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ausbrach und bis heute noch besteht. Wir sollten die Wende aus diversen Perspektiven betrachten und unser Bild der Wende differenziert überdenken. Wie könnte man den 3. Oktober also anders gestalten, um Begegnungen zu initiieren und so durch persönliche Erfahrungen eigene Vorurteile abzubauen. Ideen gibt es zahlreiche: Z.B. ein Kurzfilm- oder Dokumentarfilmfestival zum Thema Wiedervereinigung mit Schwerpunkt auf der dritten Perspektive, Ausstellungen und Diskussionsrunden zum Thema Gastarbeiter*innen in der DDR und der BRD könnten organisiert werden. Jugendliche könnte ein Comicworkshop zum Thema Gastarbeiter*innen in der DDR und die Rückkehr in ihr Heimatland ansprechen, dazu gibt es viele gute und interessante Beispiele.
Marlene, Klasse 10a