Ein Beitrag von Lille Bakker und Abigail Shirley
Bis 1961 gingen auch Schüler,*innen, die in Ost-Berlin lebten, auf die ADO, um hier ihr Abitur abzulegen. Warum?
„Ost-Klassen“ und „Ost-Schüler“ – was bedeutete das?
Die Ostklassen waren ein Ergebnis des ideologischen Kampfes, in dem die Schulen in den 50er Jahren zum Spielball wurden. Die DDR-Staatsmacht versagte Jugendlichen, die politisch oder „gesellschaftlich“ nicht die Meinung der SED vertraten, die Zulassung zur Oberschule: So Töchtern und Söhnen von Ärzten und Pfarrern, Kindern von Grenzgängern, Schülern*innen, die sich weigerten, in die FDJ (staatliche Jugendorganisation der DDR) einzutreten. Der West-Berliner Senat beschloss, ihnen eine Zuflucht zu geben. „Ich sehe es als eine politische Aufgabe an, dass West-Berlin diesen Kindern hilft“, schrieb Volksbildungssenator Joachim Tiburtius im Juni 1951 an das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen in Bonn. Aber die Westberliner Schulen waren proppenvoll. Tiburtius wollte Aufbauklassen für die „Ostschüler“ einrichten – das kostete Geld. Zunächst stieß er deshalb auf Widerstand – in Bonn, aber auch bei seinen Senatskollegen in Berlin. Doch Tiburtius setzte sich durch. Zum Schuljahr 1952/53 wurden an West-Berliner Gymnasien die ersten „Ostklassen“ eingerichtet. Daten des Berliner Landesarchivs zufolge besuchten im Januar 1953 etwa 8.000 Ostschüler*innen eine Schule in West-Berlin. Dass für die Ostschüler*innen eigens Russischunterricht eingeführt wurde – eine andere Fremdsprache hatten sie ja in der DDR nicht gelernt – war ein Politikum: Viele West-Berliner Eltern hatten Angst, die Neuankömmlinge würden bevorzugt. Die Ost-Berliner Eltern wiederum mussten zähneknirschend akzeptieren, dass ihre Kinder nicht alles in der DDR Gelernte hinter sich lassen konnten.
Warum waren Menschen aus der DDR „Grenzgänger“?
Viele Menschen in der DDR waren unzufrieden mit der Politik der SED vor 1961. Es waren insbesondere junge Menschen, die die DDR verließen. Viele flohen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage und der fehlenden Freiheitsrechte in den Westen. Bis zum 13. August 1961 hatte die SED-Diktatur bereits etwa ein Sechstel ihrer Bürger*innen verloren, über 3 Millionen Menschen waren geflohen. Mit dem Bau der Mauer versuchte die SED, die Fluchtbewegung in den Westen zu stoppen. Durch die Teilung Berlins wurde es schwieriger, Beziehungen zur Familie und dem Freundeskreis zu erhalten. Vor allem Schüler*innen hatten es nicht gerade leicht, in der DDR durften sie nach der achten Klasse (später nach der zehnten) auf die „Erweiterte Oberschule“ (EOS) wechseln und konnten dort ihr Abitur machen. Allerdings war das nicht so einfach: Nur zehn Prozent eines Jahrgangs durften überhaupt Abitur machen. Dies war eine Vorgabe der DDR-Regierung, die bis 1990 galt. Von den zehn Prozent hatten nur rund fünf Prozent die Möglichkeit, eine Berufsausbildung mit Abitur zu absolvieren. Diese fünf Prozent wurden danach ausgewählt, ob sie gute Noten hatten, aber auch, welche politische Einstellung sie hatten und aus welchem Umfeld sie kamen. Wenn man sich in der Jugendorganisation FDJ („Freie Deutsche Jugend“) engagierte, an der Jugendweihe teilnahm und man gerne Offizier*in oder Lehrer*in werden wollte, hatte man sehr gute Chancen. Wenn man allerdings kirchlich engagiert war und kritisch dachte, hatte man keine Chancen.
Viele Schüler*nnen wollten natürlich trotzdem ihr Abitur machen. Deswegen wurden an manchen West-Berliner-Schulen „Ostklassen“ angeboten. Die Schüler*nnen konnten dann zwischen Ost- und West-Berlin pendeln und im Westen zur Schule gehen. Dies wurde zwar nicht gerne im Osten gesehen, aber es war legal.
Im Schuljahr 1960/61 gab es insgesamt sechs „Ost-Klassen“. Im Nachhinein wurde die Schüler*innen einer Klasse der Reinickendorfer Bertha-von-Suttner-Oberchule durch ihre Fluchtgeschichte sehr bekannt. An der ADO gab es keine „Ost-Klasse“, aber so genannte „Ostschüler“. An der ADO wurden diese Schüler*innen laut Rainer Linke (Abitur 1958) eigentlich gut behandelt: ,,Sie haben mich, den Ostberliner, dort aufgenommen wie einer der ihren’’. Er wurde also nicht diskriminiert, wie es andere „Ostschüler“ es erfahren haben.
Welche Unterschiede gab es zwischen den damaligen Ostklassen und unserem heutigen Schulalltag?
Viele der „Ostschüler“, auch ,,Grenzgänger’’ genannt , mussten jeden Tag über die Grenze zur Schule gehen. Dabei wurden sie oft kontrolliert und mit wenig Respekt behandelt. In der Schule angekommen, wurden sie oft komisch angeschaut und mussten sich mit Beleidigungen herumschlagen. Wir selbst werden heutzutage nicht mehr einfach so nach unserem Ausweis gefragt oder kontrolliert – egal, wo man in Berlin wohnt. Das Einzige, wonach man gefragt wird, ist der für alle Schüler*nnen kostenlose BVG-Ausweis. Leider sind wir immer noch nicht frei von Vorurteilen im Alltag, denn Diskriminierungen sind leider ein viel größeres Thema geworden als damals. Die Welt um uns ist im Wandel, oft auch in einem negativen – man wird zwar nicht mehr beleidigt aufgrund des Wohnortes in Berlin (Ost oder West etc.), aber viel mehr nach seinem Aussehen, seiner Herkunft, seiner Religion oder dem Geschlecht beurteilt.
Wir haben nicht sehr viel über den allgemeinen Schulablauf herausgefunden, nur dass den Ostklassen zusätzlich Russisch angeboten wurde, damit sie sich in der Sprache verbessern konnten, die sie aus Sicht der DDR unbedingt erlernen sollten.
Aber nicht nur in der Schule, sondern auch in der Freizeit traten Probleme auf – wie Rainer Linke beschrieb: ,,Wie aus dem Nichts standen die Kontrolleure plötzlich vor dir und fragen ohne richtigen Grund nach deinem Ausweis, kontrollierten deine Tasche und behandelten dich wie einen Verdächtigen, obwohl du nur mit Freunden im Kino warst’’. Dies war nur ein Beispiel von vielen, die die Ostschüler*innen in ihrem Alltag bewältigen mussten.
Es gab drei verschiedene Gruppen von Ostschüler*innen:
1. Mit Eltern nach West-Berlin geflüchtete, bzw. umgezogene Schüler*innen (60 %).
2. ,,Grenzgänger’’ – Schüler*innen, die weiterhin in Ostberlin wohnten und pendelten (25 %).
3. Allein in Westberlin lebende Schüler*innen (15 %).
Bei der ersten Gruppe hatten nur 15 % aus politischen Gründen der DDR den Rücken gekehrt, 40 % aus familiären und 45 % aus beruflichen oder sonstigen Gründen. Ihre Eltern mussten versuchen, beruflich und wirtschaftlich Fuß zu fassen und sich dem westlichen, konsumorientierten Lebensstil anzupassen. Ein Drittel dieser Gruppe hat das Abitur nicht erreicht. Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um Schüler*nnen, die aus den Bindungen des sozialen Lebens im Osten zunehmend ausgegrenzt wurden und im Westen nicht angekommen sind. Aus diesem Grund waren diese Schüler*innen weder im Osten noch im Westen zu Hause. Die Hälfte dieser Grenzgänger hat das Abitur nicht erreicht. Bei der dritten Gruppe sollte man berücksichtigen, dass die Mehrzahl aus Kreisen von Akademikern und Freiberuflern stammten und man deshalb noch am ehesten ein deutliches politisches Engagement zu erwarten hatte. Sie hatten die größten persönlichen Probleme und Umstellungsschwierigkeiten. Zwei Drittel von ihnen haben das Abitur nicht erreicht.
Freunde hinter der Mauer?
Doch was geschah mit den Ostschüler*innen, als die Mauer gebaut wurde? Die Ostklassen konnten nicht mehr weitergeführt werden. Die Schüler*nnen, die ihr Abitur gerade gemacht hatten, bekamen ihr Zeugnis zugeschickt. Das Abitur der Ostschüler*innen wurde in der DDR allerdings oftmals gar nicht anerkannt!
In der damaligen Schülerzeitung der ADO ,,Die Pauke’’, gab es mehrere Male Aufrufe für Spenden. Außerdem wurden die Schüler*innen der ADO immer wieder daran erinnert, regelmäßig Briefe und kleinere Pakete an die Ostschüler*innen zu schicken – als kleine Aufmerksamkeit und auch als Erinnerung daran, dass sie nie vergessen werden.
Für die Schüler*innen ist der Bruch zu den Ost-Schüler*innen sehr traurig. Sie versuchen, wie so viele Menschen, die über Nacht von ihren Verwandten und Freunden getrennt wurden, durch Briefe und Päckchen die Verbindung zu halten. Es war oft anstrengend und zeitaufwändig, Ost-Berlin oder die DDR zu besuchen. Es konnte auch sein, dass man keine Genehmigung bekam oder an der Grenze abgewiesen wurde. Erst ab Anfang der siebziger Jahre war es einfacher möglich, z. B. vom Gebiet der Bundesrepublik mit dem Auto in die DDR und durch die DDR nach West-Berlin zu fahren. Petra Ballenthin schreibt von „lebensnotwendigen Dingen“, die in die Pakete kommen. Das zeigt, wie emotional und traurig die Menschen über die Spaltung waren. Niemand musste in der DDR verhungern, auch wenn um 1961 die Versorgungslage in der DDR noch nicht auf dem Stand der Bundesrepublik war. Die Unterschiede bezogen sich aber meist auf so genannte „Konsumprodukte“ wie Kaffee, Schokolade oder auch bestimmte Kleidung, wie westliche Markenkleidung wie Jeans, die es in der DDR nicht zu kaufen gab.
Die Ausschnitte der Quellen aus dem Schularchiv zeigen, dass der Mauerbau im Alltag der ADO tiefe Spuren hinterlassen hat. Dieses Ereignis ging alle etwas an. Die Schilderungen der Betroffenen ist zum Teil dramatisch: Die Menschen wollten sich nicht mit der endgültigen Spaltung Berlins abfinden und waren geschockt über die Trennung von Freunden und Familie, auch wenn die beiden Staaten bereits seit 1949 eigenständig waren. Zwischen Ost- und West-Berlin herrschte eine ganz andere Beziehung.
Spannend wäre zu fragen, was aus den Ost-Schüler*innen und den Verbindungen zwischen der ADO und den Ost-Schüler*innen geworden ist. Haben die Freundschaften gehalten, gab es irgendwann eine „Normalität der Teilung“ oder hat man sich vielleicht sogar aus den Augen verloren?
Heutzutage kann man sich kaum vorstellen, was damals alles geschehen ist.
Quellen:
https://www.planet-wissen.de/geschichte/ddr/geteilte_stadt_berlin/index.html
https://www.geo.de/wissen/weltgeschichte/zweiter-weltkrieg–der-endkampf-umberlin-1945-31827798.html
https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/flucht-fluchth
ilfe-und-freikauf/geschichte
Perner, Regina: Immer auf der Hut, dritte erweiterte Auflage, Berlin, Verlag
Schleichers Buchhandlung Dahlem-Dorf, 2012, S. 205 – 206
https://www.prüfung-ratgeber.de/2019/01/die-unterschiede-zwischen-brd-und-ddr
-im-vergleich-tabelle/
Gesichter der ADO, hrsg von Förderverein der ADO, 2016, S. 135 – 138.