„Ich kann mich erinnern, dass ich das alles unwahrscheinlich grau fand“
Ein Interview von Martha Koepp (Klasse 10a) mit Frau Eckert (Lehrerin für Englisch und Physik).
„Mist!“, ruft mein Vater. “Wir sind vom Weg abgekommen.“
Gerade fahren wir eine kleine Straße entlang. Eigentlich sind wir auf dem Weg zu unseren Bekannten nach Hamburg. Nur müssen wir leider, um dahin zu kommen, durch die DDR fahren. Um in die DDR ein- und auszureisen passierte man Grenzkontrollen, bei denen die Vopos (die Volkspolizei) unser Auto untersuchten – sogar nach Waffen. Ich war immer sehr froh, wenn wir in der Bundesrepublik angekommen waren, weil das bedeutete, dass wir die „Zone“ ohne Schwierigkeiten passiert hatten. Für mich als Kind war die ganze Situation immer sehr bedrückend. Wie kann man dort in Unfreiheit leben? Wenn man immer dort bleiben muss, nur in die östlichen Nachbarstaaten reisen kann und es nicht alles zum einkaufen gibt? Langsam kommen wir einem kleinen Dorf näher. Es ist sehr grau dort, die Häuser haben alle dieselbe Farbe. Vielleicht gibt es hier, in der DDR, keine Farben für die Häuser oder die Menschen haben nicht genügend Geld, um sich welche zu kaufen? „Wir sind gleich an der Grenzkontrolle“, sagt meine Mutter. “Gut, dass wir nicht kontrolliert wurden.“
Zur Zeit der Mauer gab es mehrere Transitstrecken, welche von West-Berlin bis in die Bundesrepublik Deutschland führten und dann weiter in Richtung anderer, „westlicher“ Länder. Auf diesen Strecken konnten Waren und Menschen transportiert werden und die Bürger der Bundesrepublik durften diese nicht verlassen. Auch DDR-Bürger befuhren die Transitstrecken, mussten diese aber wenige Kilometer vor den Grenzübergängen verlassen. Persönlicher Kontakt zwischen DDR- und Bundesbürgern war nicht erlaubt. Das wurde auf Parkplätzen und Rastplätzen streng kontrolliert.
Dies ist auch der Grund, warum Frau Eckert und ihre Familie am Ende ihrer Reise so erleichtert waren, nicht behelligt worden zu sein. Der Gedanke, dass in der DDR alles grau gewesen sei, war und ist ein bekanntes großes Vorurteil, das oft wiederholt wird. Dennoch spiegelt es einen Teil der Realität wieder: Denn es gab keine oder sehr wenige Markenklamotten, die Häuser waren oft grau oder braun angestrichen oder geputzt und generell verfügten viele Menschen über ähnliche Alltagsgegenstände, da es keine so große Auswahl in Bezug auf den Konsum von Kleidung oder Unterhaltungstechnik gab. Was es überhaupt nicht gab waren die großen Bau- und Heimwerkermärkte. Dafür waren die „Waren des täglichen Bedarfs“, wie die Grundnahrungsmittel, im Vergleich sehr günstig. Frau Eckert war 15 Jahre alt, als die Mauer fiel. Sie ging auf das Albrecht-Dürer-Gymnasium, an welchem sie 1993 ihr Abi machte. Heute ist sie Physik- und Englischlehrerin an der ADO.
„Man hat gemerkt, da kommt etwas in Bewegung“
Es waren die Nachrichten, welche Frau Eckert über den Mauerfall informierten. Natürlich freute sie sich und auch wenn es durch die vielen Proteste und Entwicklungen ein wenig vorhersehbar war, wurde ihr das Ganze erst bewusst, als die Mauer dann wirklich gefallen war. Die Proteste waren friedlich, aber regelmäßig. Zunächst fanden die Montagsdemonstrationen, wie sie genannt wurden, in Leipzig statt. Es wurden immer mehr Demonstrationen und diese auch immer populärer, sodass man schließlich auch über diese in der Bundesrepublik berichtete wurde. Somit kündigte sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den herrschenden Zuständen an, auch wenn der Mauerfall letztendlich überraschend kam.
Nach dem Mauerfall bekam Frau Eckert zwei neue Mitschüler. Beide kamen aus Ost-Berlin und mussten sich erst einmal einleben, wurden aber gut aufgenommen und gewöhnten sich sehr schnell an die neuen Arbeitsweisen. Sie hatten einen Teil des Abiturs schon beendet, mussten aber noch einige Prüfungen und Klausuren schreiben, weshalb sie in die Klasse von Frau Eckert kamen.
Der Mauerfall selber war sehr emotional für Frau Eckert, aber vor allem auch für ihren Vater, da dieser mit dem Mauerbau einen Großteil seiner Verwandtschaft, viele Bekannte und seine besten Freunde verlor. Frau Eckert war sehr erstaunt und auch etwas ungläubig darüber, dass die Mauer gefallen war. Heute ist sie sich bewusster, welche Auswirkungen dieses Ereignis für sie selbst brachte und was sie ohne den Mauerfall jetzt nicht hätte: Ihren jetzigen Lebensgefährten und ihren Sohn! Geschichten über das unterschiedliche Leben im ehemaligen Ost- und Westdeutschland kennt ihr Sohn inzwischen viele.
„Es war ein total positiv belegtes Ereignis“
Es gab nichts, was Frau Eckert Angst eingejagt oder wovor sie Befürchtungen hatte, als die Mauer fiel. Es war eher die Freude, welche im Vordergrund stand. Frau Eckert war damals in dem Alter, in dem man sich noch nicht wirklich für politische Themen wie dieses interessierte, solange sie einen nicht selber betrafen. Somit dachte sie damals noch nicht viel über den Mauerfall nach und hatte dementsprechend auch keine Befürchtungen. Generell war der Mauerfall für Frau Eckert ein „total positiv belegtes Ereignis“.
Etwas, was durch den Mauerfall möglich wurde, war den Ort kennenzulernen, an welchem sich fast die ganze Kindheit ihres Vaters abspielte. Deswegen wurde durch den Mauerfall ein Wunsch ermöglicht. Sie konnte zum Müggelsee fahren und das Bootshaus oder dessen Überreste sehen und mit dem Kajak von dort aus zum kleinen Bauersee paddeln, wo ihr Vater als Kind in seinem „Einer“-Faltboot zwischen Schilf und Seerosen Comics gelesen hatte.
„In West-Berlin hatten wir ja alles“
Obwohl Frau Eckert sehr nahe an der Mauer wohnte, bekam sie nicht viel von ihr mit und fühlte sich auch nicht eingeschränkt. Manchmal fuhr sie mit dem Fahrrad den Mauerweg entlang. Dann guckte sie auch mal mithilfe von sogenannten „Tribünen“, welche in West-Berlin standen und den Bewohnern und Touristen einen Blick auf die andere Seite gewährten, über die Mauer.
Eingeengt musste man sich wegen der Mauer Frau Eckerts Meinung nach nicht, da man in West-Berlin ja alles hatte. Man konnte in andere Länder fliegen, fast alles Einkaufen und auch Freunde und Verwandte in West-Deutschland besuchen. Nur musste sie, wenn sie nach West-Deutschland wollte, durch die DDR fahren, was oft unangenehm war. Manchmal ist sie bei Wandertagen an den Geisterbahnhöfen (Bahnhöfe, an denen durch den Mauerbau nicht mehr angehalten wurde und welche in Ost-Berlin liegen) der U6 vorbeigefahren, welche leer und dunkel aussahen. Dann haben sie und ihre Klassenkameraden ihre Nasen an den Türen plattgedrückt und nach draußen geschaut, mit der Hoffnung, jemanden außer Volkspolizisten auf den verlassenen Bahnsteigen zu sehen.
Dennoch war Frau Eckert sich der Bedeutung der Mauer für sich selber nicht bewusst. Sie war da, aber mehr auch nicht. Wirklichen Kontakt zu Menschen in der DDR hatte Frau Eckert auch nicht, wie sie mir am Anfang des Interviews erzählte. Frau Eckert kannte nur den Teil der Familie, welcher in West-Berlin oder in der Bundesrepublik lebte und den sie besuchen konnte. Dadurch, dass sie aber keinen Anhaltspunkt hatte, um sich sehr für die DDR und deren Geschichte zu interessieren, waren viele Informationen während dieser Zeit und zum Thema DDR nicht wirklich greifbar.
So auch das Thema „die DDR“, als es in der Schule besprochen wurde. Nur noch vage Erinnerungen daran, dass über den Mauerbau und wirtschaftliche Aspekte gesprochen wurde, sind geblieben.
Über die DDR kann Frau Eckert nicht wirklich etwas Gutes sagen. Zwar wusste sie als Jugendliche noch nicht so viel über die DDR, aber ein paar Dinge gab es, die man wusste, selber mitbekommen hatte oder von irgendjemandem erzählt bekam. So war es auch mit der Informationen, dass zum Beispiel die DDR-Bürger nur in den Ostblock oder innerhalb der DDR reisen konnten, es nicht alle Produkte zu kaufen gab, welche oft in der Bundesrepublik vorhanden waren, man nicht immer seine eigene Meinung sagen und vertreten konnte, die Religion und Kirche nicht gut angesehen wurden, man auch anders behandelt wurde, wenn man religiös war und, dass es eher simple und pragmatische Autos, wie die so genannten „Trabis“ gab. Die nicht vorhandene Arbeitslosigkeit, war der einzige Vorteil, den Frau Eckert in der DDR – damals – sah.
Heute sieht Frau Eckert das Alles weniger naiv, dadurch, dass sie heute Menschen kennt, die ihre Sicht erklären und Geschichten erzählen können. Dies fehlte Frau Eckert, als sie Jugendliche war, da sie nur Menschen aus der Bundesrepublik kannte. So weiß sie heute, dass, wenn zwei Menschen beispielsweise verheiratet und beide Lehrer waren, mindestens einer Mitglied der SED sein musste. Dies lag daran, dass Lehrer Bezugs- und Erziehungspersonen waren. Somit war die Wahrscheinlichkeit höher, dass auch deren Schüler*innen später in die SED eintreten würden. Ein anderer Punkt war, dass man nicht über alles reden konnte, wie z.B. wenn man West-Fernsehen geguckt hatte, weil dies offiziell verpönt war, da die SED nicht wollte, dass man Information aus dem „Westen“ bekam. Auch die Staatssicherheit (Stasi) war ein wichtiges Thema, da man oft nicht wusste, ob man von ihr beobachtet wurde oder nicht. Die Stasi spionierte nämlich viele Bürger*innen aus, von denen sie annahm, dass diese fliehen wollen.
„In die Innenstadt, wo auch der Alexanderplatz ist“
Als die Mauer fiel, war Frau Eckert zwar sehr froh, konnte aber noch nicht auf die andere Seite, um zu sehen, wie es in der DDR aussah. Es war nämlich so, dass erst die DDR-Bürger nach West-Berlin konnten, bevor auch die West-Berliner mal die „andere Seite“ besichtigen konnten. Dies war im Dezember des Jahres soweit, was hieß, dass die Mauer schon seit einem Monat gefallen war. Also ging Frau Eckert wenig später mit einem Teil ihrer Familie und Freunden ihrer Eltern nach Ost-Berlin, um sich die Stadt und die Sehenswürdigkeiten anzuschauen – diese Stadthälfte hatte sie ja nie betreten. Die ersten Eindrücke waren nicht sehr besonders: in ihrer Erinnerung waren die Straßen waren groß und breit, alles war sehr grau und einheitlich und auch die Architektur hatte nichts Großartiges zu bieten, sondern variierte eher wenig. Ein paar Monate später fuhr Frau Eckert auch schon zum ersten Mal an die Ostsee, um dort auf Rügen die Kreidefelsen zu sehen. Doch nicht nur das hatte sich verändert. Zwar merkte Frau Eckert im Alltag keine großen Unterschiede zum Leben mit der Mauer, aber wenn sie mal nach West-Deutschland fuhr, gab es keine Grenzkontrollen mehr und auch die Mauer verschwand Stück für Stück.
„Das war schon ein bisschen Kurios“
Ein lustiger Fakt ist, dass Menschen mit Plastiktüten voller Obst Frau Eckert an die Zeit nach der Mauer erinnern. Als ich sie danach fragte, antwortete sie mir, dass es in der DDR nur wenige Orangen, Bananen oder anderes tropisches Obst gab, sodass viele diese in West-Berlin einkauften. Die Schule jedoch hat sich bis heute nicht viel verändert. In ihrer Schulzeit gab es allerdings noch keine Schnelllerner-Klassen und die Schülerklientel war noch nicht so multikulturell wie es heute der Fall ist.
„Da hatten sie ein kleines Bootshaus“
Eine ganz besondere Geschichte hat jedoch ihr Vater erlebt, was ihr vielleicht in einigen Textausschnitten schon lesen konntet, welcher mit 15 Jahren durch den Mauerbau fast seinen gesamten Familien- und Freundeskreis verlor. Diese Geschichte spielte sich um ein kleines Bootshaus herum in Rahnsdorf am Müggelsee ab. Ihr war fast jedes Wochenende und in den Ferien dort, um sich mit seiner Familie und seinen Freunden zu treffen. An einem Tag im August 1961 jedoch, musste er sehr schnell nach Kreuzberg in West-Berlin, da er dort mit seinen Eltern wohnte. Kurz bevor die Mauer geschlossen wurde, kam ihr Vater bei sich zu Hause an, da ein Bekannter seine Familie am Bootshaus mit den Worten „Wisst ihr schon die machen Berlin dicht!“ noch rechtzeitig gewarnt hatte. Der Bekannte sollte Recht behalten, sodass ihr Vater seit diesem Tag das Bootshaus nicht mehr sehen konnte.
Mit dem Mauerbau war ein Stück Lebensgeschichte ihres Vaters weggefallen. Er konnte viele Verwandte, die Freunde seiner Eltern und seine beiden besten Freunde nicht mehr sehen und ihr Kontakt brach nach nur kurzer Zeit auch ab. Wenn Ihr Euch jetzt vorstellen würdet, dass Ihr Eure Verwandten und Freunde vom einen auf den anderen Tag nicht mehr sehen könntet, es nur wenige Möglichkeiten gäbe, um zu kommunizieren, weshalb Ihr euch nach und nach immer weniger miteinander verständigen würdet. Und auf einmal, 28 Jahre später das, was Euren Kontakt verhindert hat, verschwindet – würdet Ihr Euch dann freuen? Ich denke schon. Auf jeden Fall hatte Frau Eckerts Vater nicht mehr die Möglichkeit, mit dem Boot auf dem Müggelsee hinaus zu fahren, Ballspiele zu spielen und seine Jugend zu genießen. Dies ist auch der Grund, weshalb Frau Eckerts Vater heute nicht mehr zum Bootshaus will. Zwar existiert es nun auch nicht mehr, aber ihr Vater will nicht, dass all seine schönen Erinnerungen von dem jetzigen Bild überschattet werden.
Dadurch, dass sich fast seine gesamte Kindheit in Ost-Berlin abspielte, fuhr er direkt nach dem Mauerfall mit einem Freund „rüber“, um zu schauen, wie sich die Stadt verändert hatte. Auf dem Rückweg sind sie dann mit einem Taxi gefahren und sagtem dem Taxifahrer, dass sie nach West-Berlin wollen. Dieser wusste noch nicht, dass er mit dem Taxi nach West-Berlin fahren durfte und freute sich ungemein, als er diese Nachricht hörte. So haben der Vater von Frau Eckert und sein Freund den Taxifahrer mit nach West-Berlin genommen und sind noch ein Bier trinken gegangen, um die Grenzöffnung zu feiern.
„Ich kann mich erinnern, dass ich das alles unwahrscheinlich grau fand“
Wie ihr wahrscheinlich schon bemerkt habt, steht im ersten Absatz eine kleine Geschichte. Diese handelt von einem Ereignis, welches Frau Eckert als Kind zur Zeit der Mauer erlebt hat. Sie und ihre Familie verfuhren sich, als sie auf dem Weg zu Verwandten in Hannover oder Freunden nach Hamburg waren. Zwar wurden sie nicht erwischt, aber trotzdem waren sie durch ein kleines Dorf gefahren, welches immer noch Erinnerungen bei Frau Eckert weckt. Es war das erste Mal, dass sie einen Teil der DDR von Nahem sah. Sie erinnert sich heute noch, dass sie „das alles unwahrscheinlich grau fand“.
Mir kommt dieser Satz einerseits ziemlich spannend vor, aber andererseits ist er so einfach gebaut und hat eine so tiefe Bedeutung. Es ist nun einmal so, dass Viele, die in der Bundesrepublik lebten, es damals ziemlich grau in der DDR fanden, da die Häuser und die Klamotten weniger farbig waren und sie dies nicht gewohnt waren. Nur ist es wichtig zu beachten, dass das Leben in der DDR nicht „nur schlecht“ und in der Bundesrepublik Deutschland nicht „immer das Paradies“ war. Es gibt auch das Dazwischen, welches aber nicht sofort und vor allem auch nicht bei den Teenagern wirklich gesehen wurde.
Insgesamt fand ich das Interview sehr interessant. Ich konnte viele Fragen stellen, welche mir auch alle mit spannenden Antworten beantwortet wurden. Die Atmosphäre des Interviews war angenehm und ich konnte mir auf einer mir bisher unbekannten Art und Weise neues Wissen erarbeiten. Während und nach dem Interview habe ich Vieles gelernt, konnte generell mein erstes Interview führen, welches länger als zehn Minuten dauerte und das zu einem Thema, welches mich sehr interessiert. Unsere Geschichte ist mir sehr wichtig und ich finde es toll, die Möglichkeit gehabt zu haben, ein richtiges Zeitzeugengespräch zu führen, welches ich mit ein bisschen Hilfe selbstständig vorbereiten und führen konnte.
Deswegen, Danke!