„In die falsche Richtung über die Mauer.“
Ein Interview von Jakob Jaeggi (Klasse 9a) mit Frau Lippke (Sekretärin der ADO).
Frau Lippke, die beim Mauerfall 18 Jahre alt war, arbeitet als Sekretärin bei uns an der ADO und hat mir sehr freundlich und hilfsbereit über ihre Erlebnisse während des Mauerfalls berichtet. Das Interview fand kurz vor den Weihnachtsferien im Sekretariat der Schule statt.
Am Tag nach dem Mauerfall, am 10. November 1989, sei ihre erste Reaktion gewesen: „Wahnsinn“. Sie habe zur entscheidenden Zeit gearbeitet, nämlich Bekannten privat die Haare geschnitten. Sie erfuhr die für sie erfreuliche Nachricht am nächsten Morgen, als sie zur Arbeit im Friseursalon eintraf. Kundschaft kam an diesem Tag fast keine in das Geschäft. Daher nahm sie sich den Nachmittag frei und fuhr zusammen mit ihrem Freund zu einem Grenzübergang.
„Wir sind am 10. mittags zur Chausseestraße gefahren. Dort waren natürlich Massen, die dann alle mal rüber gucken wollten und dann sind wir da tatsächlich rübergekommen und uns hat ein etwas älterer Herr in Empfang genommen. Der stand dann kurz hinter der Grenze und hat gefragt: „Ah, ihr kommt aus dem Osten drüben?“ Und wir: „Ja.“ „Na, kommt mal mit, dann zeig ich euch mal ein bisschen was von West-Berlin“.
Dieser Herr zeigte ihnen dann West-Berlin. So etwas würde heute vermutlich nicht mehr so einfach passieren. Aber wie Frau Lippke sagte: „Es war alles ganz euphorisch, eine tolle Stimmung.“
Am frühen Abend kamen sie wieder zurück an die Chausseestraße. „Dann sind wir zur Mauer und alle kamen vom Osten nach Westen, aber die, die dann wieder zurück wollten, kamen nicht durch.“ Sie sahen, dass ein Baugerüst an die Mauer gestellt wurde. „Da sind wir dann mit vielen anderen hochgeklettert. Auf der Mauer standen ganz, ganz viele Leute. Und drüben standen natürlich noch viel mehr, die rüber in den Westen wollten. Und dann sagte mein damaliger Freund: „So, jetzt müssen wir auf der anderen Seite aber irgendwie wieder runter.“ Und ich so: „Oh nee, ich hab so ne Höhenangst.“ Und das haben unten welche mitbekommen und meinten: „Setz dich einfach oben hin, wir fangen dich schon auf. Und wie gesagt, das war eine euphorische Stimmung. Und die haben mich dann aufgefangen und ich bin irgendwie unten gelandet. Das war, wie gesagt, eine tolle Zeit. Tolles Erlebnis! Kann man gar nicht beschreiben, diese Situation“, schwärmt Frau Lippke noch heute.
Die Mauer sei in ihrer Jugend bereits sehr präsent gewesen, da sie Familie im Westen Berlins hatte: Großeltern, Onkel und Tanten. Diese kamen öfter zu Besuch nach Ost-Berlin, umgekehrt war ein Besuch nicht möglich. Das machte sie manchmal traurig.
Tatsächlich war sie aber einmal, 1989 kurz vor der Wende zu einer Hochzeit im Kreis der Familie im Westen. Ihre Eltern durften häufiger dorthin reisen, aber immer ohne sie. Damit war die Rückkehr ihrer Eltern abgesichert. Häufig brachte die Verwandtschaft nette Geschenke aus dem Westen mit.
Frau Lippke erzählte, sie sei in der FDJ gewesen, also in der Jugendorganisation der DDR, in der Freizeitaktivitäten, aber auch politische Bildung zentral organisiert wurden. Die Mitgliedschaft war zwar in der Theorie freiwillig, Nichtmitglieder hatten allerdings Nachteile. Frau Lippke erzählte, dass sie dennoch nicht bei organisierten Veranstaltungen vom Staat dabei gewesen: „Da hat mein Vater dann schon grundsätzlich gesagt: „Wir gehen zu keiner Veranstaltung, die vom Staat vorgegeben wird!’“ Dies war zum Beispiel der 1. Mai, der Tag der Republik oder der 7. Oktober, der Gründungstag der DDR.
Sie selbst habe sich nie überlegt, in den Westen zu fliehen. Im Nachhinein erzählt sie aber, dass sie das vermutlich in Erwägung gezogen hätte, wäre die Mauer länger stehen geblieben. Wichtig sei ihr damals wie auch heute das Reisen gewesen. Sie wollte die Welt sehen und kennenlernen.
Es gab aber auch Einiges damals in der DDR, so erinnert sie sich heute zumindest, was sie wirklich gut fand. Da war zum Beispiel der Zusammenhalt in den Schulklassen und die Möglichkeit der Teilnahme an kostenlosen AGs am Nachmittag. Sie selbst war Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr.
Oft gab es nachmittags nach der Schule Zeiten, in denen sie mit ihren Freunden viel unternommen habe. Sie meint, vermutlich sei das im Westen genauso gewesen und hätte sich erst wirklich geändert seit Computer und Handys weit verbreitet sind.
Ihre Familie sei politisch nicht aktiv gewesen. Vermutlich sei ihre Familie aber trotzdem von der Staatssicherheit, der Stasi, überwacht worden. Der Vater habe sich aber mit politischen oder kritischen Äußerungen sehr zurückgehalten. Zuhause im Familien- und Freundeskreis habe er zwar Einiges angeprangert, aber öffentlich hätte er das niemals getan.
Ob jemand bei der Staatssicherheit war, konnte man ihrer Meinung nach leicht erkennen: „Hundert prozentig gewusst sicherlich nicht, aber vermutet wurde ja immer ganz viel. Und man hat die auch erkannt. Ich sag mal, wenn man nicht ganz blind war, hat man erkannt, ob irgendwo jemand steht und einen beobachtet.“
Zum Beispiel habe es ein mit ihren Eltern befreundetes Nachbarehepaar gegeben. Da habe sich Jahre später „herausgestellt, dass der Mann ein IM“, ein Stasi-Spitzel, gewesen war. Als ein „IM“ wurde ein Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit der DDR benannt. Das heißt, jemand, der im Auftrag der Staatssicherheit seine Mitbürger, oft auch enge Verwandte und Bekannte ausspioniert hat, also Informationen über sie weiter gegeben hat. Aber in Frau Lippkes engerer Familie und im engeren Freundeskreis gab es, so vermutet sie, ansonsten keine Spitzel. Frau Lippke geht mittlerweile davon aus, dass Stasi-Akten von ihr und ihren Eltern existieren. Sie habe diese zwar bisher nicht eingesehen, habe das aber unbedingt vor in der nächsten Zeit. Seit der Wiedervereinigung können ehemalige DDR-Bürger Einsicht in ihre Akten, also in das, was die Stasi über sie gesammelt hat, nehmen. Dabei gibt es oft böse Überraschungen.
Von der Schule erzählt sie, dass diese durchaus stark politisch geprägt gewesen sei. Staatsbürgerkunde sei ein sehr wichtiges Fach gewesen, habe ihr aber gar keinen Spaß gemacht. Deshalb habe sie in diesem Fach auch nicht richtig mitgearbeitet. Staatsbürgerkunde war eine Art Politische Weltkunde, in der das politische System der DDR und dessen weltanschauliche Grundlagen erläutert werden sollten. Allerdings war das Unterrichtsziel offenbar sehr darauf ausgerichtet, den Schülern eine vorgegebene Position einzutrichtern. Es sei, so sagt Frau Lippke, sehr genau „vom Staat vorgegeben“ gewesen, „was die Lehrer da machen dürfen.“
Die meisten Lehrer hätten damals erzählt, „was bei uns alles gut ist“ und dass sehr Vieles im Westen schlecht gewesen sei und was speziell und besonders schlecht sei. Sie aber habe durch ihre gesamte Verwandtschaft im Westen gewusst, dass bestimmt nicht alles schlecht gewesen sein konnte. „Deswegen habe ich mich auch so ein bisschen zurückgezogen aus dem Unterricht und habe da tatsächlich auch meistens eine Vier gehabt, weil ich mich nicht aktiv äußern wollte. Also ich war da sehr, sehr passiv im Unterricht. Mein Vater hat mir auch immer gesagt: sage am besten nichts, halt deine Klappe und fertig.“
Offenbar war es also auch in der DDR, und obwohl so viele Dinge vom Staat vorgegeben und organisiert waren, in einem gewissen Maße möglich, sich ins Private zurückzuziehen und sich aus den politischen Angelegenheiten rauszuhalten.
Frau Lippkes beruflicher Weg ist auch durch den Mauerfall geprägt. Sie habe eine erste Ausbildung zur Friseurin gemacht. Das sei mehr Praxis und weniger Theorie gewesen. In der Ausbildung sei dann zum Beispiel Chemie schon immer viel wichtiger gewesen als Staatsbürgerkunde. Sie wollte nach der Schule durchaus wirklich Friseurin werden, aber als dann die Wende kam, habe sie festgestellt, dass „ihr Traumberuf“ nicht mehr dem entsprach, was sie irgendwann mal wollte. Im Westen sei damals ihr Verdienst extrem nach unten gegangen. „Also, ich habe zu Ostzeiten wahnsinnig gutes Geld verdient. Dann ist der Verdienst so gesunken und die Ansprüche gestiegen. Der Umgang miteinander hat sich damals komplett geändert. Und dann hab ich gesagt, nee, das ist kein Beruf, den du ewig machen willst. Ich war ja auch gerade Anfang zwanzig. Also habe ich dann nochmal eine zweite dreijährige Ausbildung als „Fachangestellte für Bürokommunikation“ absolviert.
Ich denke, Frau Lippke ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich mit dem Fall der Mauer für viele Menschen Einiges zum Guten geändert hat. Sie scheint sehr zufrieden mit der Entwicklung zu sein und ist viel gereist. Sie wollte immer gerne reisen. Dies ermöglichte ihr der Fall der Mauer.