„Ich möchte jetzt bitte nach Frankreich fahren.“
Ein Interview von Marlene Becker (Klasse 9a) mit Frau Raitschewa (Lehrerin für Deutsch und Französisch).
Ein Leben in der DDR, Bulgarien und dem wiedervereinigten Deutschland
Frau Raitschewa ging, nachdem sie ihr Studium beendet hatte, zur Volkspolizei und sagte: „Ich möchte jetzt bitte nach Frankreich fahren“. Nach langem Warten wurde sie zum Polizeichef gebracht, der sie fragte, wieso Sie denn nach Frankreich wolle. Sie würde jetzt, nachdem sie Französischlehrerin sei, gerne ihre Sprachkenntnisse erweitern, ihr Gelerntes anwenden und außerdem ihre Verwanden väterlicherseits kennenlernen, war ihre Antwort.
„Ich kann mich ehrlich gesagt, an diesen Tag überhaupt nicht mehr erinnern.“
Ganz entgegen der Bilder von der friedlichen Demonstration, die wir im Kopf haben, wenn wir an den 09. November 1989 denken, saß Frau Raitschewa mit ihren zwei kleinen Kindern zu Hause, hat keine Nachrichten gehört und so vom Mauerfall erst am nächsten Tag erfahren. Auch dann ist sie nicht gleich aufgebrochen, um nach Westberlin zu gehen. Ihr erster Gedanke galt auch gar nicht West-Berlin oder Westdeutschland, sondern Frankreich.
Das Ereignis an sich überraschte sie nicht besonders. Und die eigentliche Freude kam schon auf, als in der Nacht vom 10. auf den 11. September Ungarn seine Grenze zu Österreich öffnete; „Da war mir ziemlich klar, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die Grenze auch in der DDR aufgemacht werden würde.“
Der Grenzöffnung zwischen Ungarn und Österreich ging der Abbau des veralteten und überholten Grenzzauns ab Mai 1989 voraus. Die Grenzsicherung hatte in den Augen der ungarischen Regierung keinen Sinn mehr. Der Abbau, über den die Weltpresse berichtete, hatte eine Signalwirkung, vor allem für die Bürger in der DDR und die friedliche Revolution. Ungarische Bürger konnten seit 1988 mit Hilfe eines so genannten „Weltpasses“ auch schon ins nicht-sozialistische Ausland reisen.
Zu DDR-Zeiten durfte Frau Raitschewa nicht in so genannten „kapitalistische Ausland“ verreisen, was sie jedoch nicht wirklich störte, da sie es nicht anders kannte. Aber sie freute sich, dass sie nun nach dem Mauerfall nach Frankreich fahren konnte, um ihre Sprachkenntnisse endlich auch in Frankreich anzuwenden und natürlich auch ihre Verwandten nach so vielen Jahren kennenzulernen. Außerdem war sie im Nachhinein glücklich, den Unterschied zwischen dem Leben in der DDR und der Bundesrepublik erfahren zu haben. Unsicherheit kam jedoch auf, wenn sie daran dachte, wie die Arbeitssituation für ihren Mann und ihre Familie in einem wiedervereinigten Deutschland werden könne. Dass sie als Lehrerin arbeitslos werden könnte, befürchtete Frau Raitschewa nicht. Aber sie machte sich Sorgen, dass ihr damaliger Mann arbeitslos werden könne. Er war Hochseefischer, wollte aber nicht mehr ständig berufsbedingt von seiner Familie getrennt sein. Ursprünglich hatte er aufgrund seiner Qualifikation auf eine Anstellung im so genannten „Außenhandel“ gehofft (Handelsorganisation der DDR mit dem westlichen Ausland), der aber dann 1989/90 überflüssig wurde. Und ging so nach der Wiedervereinigung leider tatsächlich in die Arbeitslosigkeit.
Verwandte in Westdeutschland hatte sie keine, daher erwog sie auch nicht dorthin zu ziehen. Auch mit dem ersten Aufenthalt im Westteil der Stadt wartete sie einige Zeit. Sie überquerte die ehemalige Mauer am Checkpoint Charlie. Bei diesem Besuch bekam sie das Begrüßungsgeld, mit dem und zusätzlichen Ersparten sie und ihr Mann sich später einen westdeutschen Gebrauchtwagen kauften.
Das Leben in der DDR hat Frau Raitschewa immer als angenehm und sicher empfunden, obwohl es einige Ereignisse gab, die sie in ihrer Meinung auch hätten umstimmen können. Wegen ihrer Westverwandtschaft in Frankreich konnte sie ihren Traumberuf Dolmetscherin nicht studieren und ist daraufhin Lehrerin geworden.
Ein Freund verweigerte während seines Armeedienstes den Schießbefehl und durfte daraufhin nicht studieren. Und ihr französischer Vater wurde von der Staatssicherheit bedrängt, für diese zu arbeiten. Jedes Jahr wurde er zum französischen Nationalfeiertag in die französische Botschaft nach Berlin eingeladen, die Staatssicherheit wollte ihm die Fahrt dorthin bezahlen. Dafür hätte er über das Treffen an das Ministerium berichten sollen. Dies hat er aber abgelehnt.
Frau Raitschewa hat nie an eine Flucht aus der DDR gedacht, obwohl sie die Möglichkeit dazu hatte und einige Freunde von ihr auch in die Bundesrepublik geflohen sind. Im Vergleich zur Bundesrepublik gab es nach Meinung von Frau Raitschewa in der DDR mehr und besser organisierte sportliche Aktivitäten, die außerdem intensiver von staatlicher Seite unterstützt wurden. Das Gesundheitswesen sei insofern besser organisiert gewesen, da es für alle die gleiche Leistung und keine Abstufungen gab. Dies vermisste sie nach der Wende. Interessant findet sie, dass viele Dinge, die nach der Wende abgeschafft wurden, langsam wieder zurückkommen. Als Beispiel nennt sie die Polyklinik, die man heute als Gesundheitszentrum wiederfindet.
Weiterhin schätzt sie die Schulausbildung in der DDR – abgesehen von der politischen Ausrichtung – als sehr gut ein. Insgesamt empfindet sie die Erfahrung und das Wissen über die DDR als Reichtum, da sie so die Möglichkeit hat, es mit dem heutigen Leben zu vergleichen.
Frau Raitschewa lebte seit ihrem dritten Lebensjahr in der Lausitz (südöstliches Brandenburg) und hat dort ihre ganze Kindheit bis zu ihrem Studienbeginn verbracht. Nach ihrer eigenen Aussage bezeichnete man die Lausitz als „Tal der Ahnungslosen“, da man dort nur DDR-Fernsehen und keine westdeutschen Sender empfangen konnte.
Ihr Vater war Bergmann aus Frankreich, ihre Mutter war Sudetendeutsche. Aufgrund der französischen Staatsbürgerschaft des Vaters hatten zunächst alle Familienangehörigen eine doppelte Staatsbürgerschaft. Doch nach den ersten Jahren in der DDR wurde der Mutter und Frau Raitschewa die französische Staatsbürgerschaft entzogen.
Aufgrund der Arbeit des Vaters blieb die Familie in der DDR und siedelte nicht nach Frankreich über. Der Vater befürchtete, dass er in Frankreich als Bergmann keine Arbeit mehr finden würde.
Nach der Schulausbildung ging Frau Raitschewa zum Lehramtsstudium für Französisch und Deutsch nach Leipzig. Sie unterrichtete zwei Jahre an einer Schule in Berlin. 1980 heiratete sie ihren damaligen Mann, der aus Bulgarien stammte und ging mit ihm dorthin. Die Ausreise wurde von der Staatssicherheit geprüft, da sie (immer noch) unter dem Verdacht stand, aus der DDR fliehen zu wollen. Ihre damalige Nachbarin wurde vor ihrer Ausreise zu ihrem Verhalten und nach ihrer Einstellung befragt. Dies erfuhr Frau Raitschewa aber schon damals direkt von ihrer Nachbarin.
Bis 1989 lebte Frau Raitschewa mit ihrem Mann in Bulgarien, dann zogen sie wieder zurück nach Deutschland. Erst einige Zeit nach dem Mauerfall besuchte Sie ihre Verwandten in Frankreich, zu denen sie bisher keinen Kontakt gehabt hatte. Nur mit einem Cousin stand sie in gelegentlichem Briefkontakt. Bei ihrem Besuch in Frankreich gab es ein großes Verwandtentreffen, da alle sie endlich kennenlernen wollten.
Wie befürchtet, wurde ihr Mann arbeitslos. Frau Raitschewa studierte zusätzlich Ethik auf Lehramt und unterrichtete in Berlin Französisch, Deutsch und Ethik – auch am Albrecht-Dürer-Gymnasium. In den letzten Jahren unterrichtete sie in den Willkommensklassen. Heute ist Frau Raitschewa im Ruhstand.
Obwohl Frau Raitschewa immer unter dem Verdacht der so genannten „Republikflucht“ stand, ging sie nach ihrem Studium zur Polizei mit der Bitte nach Frankreich fahren zu dürfen. Dies drückt einerseits ihre Naivität aus, andererseits aber auch, dass sie die Überwachung der Familie durch die Staatssicherheit nicht ernst genommen hat. Nach ihren Worten habe sie ein schönes und glückliches Leben in der DDR geführt und sich dort immer sicher gefühlt. Sie hatte auch nie das Bedürfnis in den Westen zu gehen und hat es nicht bereut, dass sie ihren Traumberuf nicht ausüben durfte. Als Dolmetscherin hätte sie, nach eigner Auskunft, nach der Wende viel schwerer Arbeit gefunden.
Frau Raitschewa hat nach der Wende ihre Stasi-Akte eingesehen und musste feststellen, dass ein ehemaliger Mitschüler Informationen über sie gesammelt hatte. Ihre Stasiakte war allerdings leer. Sie wusste, dass dieser Mitschüler bei der Stasi tätig war. Das gab man früher auch offen zu. Dass er auch sie bespitzelt hat, ist ihr erst klargeworden, als sie nach Bulgarien ausreiste. Er wusste Einzelheiten über ihre Ausreise, die sie ihm nie erzählt hatte. Es war ein Klassenkamerad, kein wirklicher Freund. Ihre Eltern kannten sich aber auch. Der gemeinsame Freund hat immer mal wieder Informationen über Frau Raitschewa an die Staatssicherheit übermittelt. Ob regelmäßig und mit welchem Inhalt bleibt Spekulation. Das kleine Trostpflaster ist: Er hat nie etwas Schlechtes über sie berichtet hat.