„Es war ein richtig roter Toyota!“
Ein Interview von Mika Dyroff (Klasse 9a) mit Frau Schenk (Lehrerin für Deutsch und Geschichte).
Einen „richtig roten Toyota“ brachte Frau Schenks Vater mit, als er nach der Wende wegen seiner Kinder aufhörte im Westen des dann vereinten Deutschlands zu arbeiten. „Es gab schon krasses Geld da drüben“ sagt Frau Schenk, als sie von diesem „abrupten Autotausch“ erzählte. In der DDR wäre das nicht so einfach möglich gewesen. Dort warteten Familien zum Teil jahrzehntelang auf ihre „Trabis“. Das lag daran, dass nur wenige Neuwagen produziert wurden. „Trabi“ steht für Trabant, das vielleicht populärste Automodell der DDR.
Kurzbiografie von Frau Schenk
Frau Schenk ist Lehrerin für Geschichte und Deutsch am Albrecht-Dürer-Gymnasium. Sie wurde 1983 in Mecklenburg-Vorpommern in der DDR geboren. Als sie sieben Jahre alt war, wurde Deutschland wiedervereinigt. Ihre Schul- und Studienzeit verbrachte sie in Mecklenburg-Vorpommern, bevor sie dann 2009 für ihr Referendariat nach Berlin-Lichtenberg zog.
Die Zeit des Mauerfalls
Frau Schenk war am 9.11.1989, dem Tag, an dem die Mauer fiel, sechs Jahre alt und schlief. Sie lebte damals auf einem Bauernhof in Mecklenburg, mit ihrem kleinen Bruder und ihren Eltern. Ihr Vater war draußen und versorgte die Tiere. Die Mutter schaltete den Fernseher an und sah in den Nachrichten, was passiert war. Beide Eltern waren sehr überrascht über den Fall der Mauer und hatten vorher nichts geahnt. Sie saßen dann die ganze Nacht wach und guckten sich die Ereignisse in Berlin im Fernsehen an. Ironischerweise hatte ihre Mutter am selben Tag in ihrem Betrieb das 40jährige Bestehen der DDR gefeiert.
Zwei Wochen später fuhr die ganze Familie nach West-Berlin. Als DDR-Bürger bekamen sie dort pro Person 100 D-Mark, das so genannte Begrüßungsgeld anlässlich ihres ersten Besuches in der Bundesrepublik. So ergab sich auch die Situation, dass Frau Schenk in einem Einkaufszentrum in West-Berlin vor einem Bäcker stand und sagte: „Ich könnte hier alles auffressen!“. Sie erzählte, dass sie von dem ganzen Konsumgut gar nicht loszukriegen gewesen war. Im Endeffekt kauften ihre Eltern ein Radio.
Auf die Frage, ob sich für die oder in der Familie mit dem Mauerfall etwas änderte, antwortete sie, dass sie erstmal nicht viel davon mitbekommen hätte. Das Leben ging für sie normal weiter. Doch plötzlich arbeitete der Vater, der eigentlich in der DDR beim Baukombinat, einem staatlichen Baubetrieb, und später dann, als die Familie aufs Land zog, in der LPG gearbeitet hatte, bei der Baufirma eines Cousins von Frau Schenks Mutter in Westdeutschland angestellt war. Das hatte zur Folge, dass er fünf Tage in der Woche nicht auf dem Bauernhof war. Durch diese Arbeit kam auch der Toyota in die Familie. Zwei Jahre lang arbeitete er dort und verdiente sehr gut. Seine Frau wollte schließlich, dass er sich wieder einen Job in der Nähe sucht. Ihr war es zu viel, sich alleine um die Kinder und Tiere zu kümmern. Dazu arbeitete sie auch beim Bürgermeister des Dorfes, in dem sie lebten, als Bürokraft.
Nicht lange danach arbeiteten beide Eltern, für ihre Tochter überraschend, als Vertreter*innen. Eine Situation ist ihr besonders im Gedächtnis geblieben. Ihr Vater, der Heizungsvertreter wurde, sprach sie an, ob sie zufällig noch einen Kaugummi hätte und sie ihn fragte, warum er einen haben wolle. Er wollte den Kaugummi, weil er Raucher war und gleich zu einem Kunden musste. Frau Schenk erinnert sich noch heute, wie komisch das für sie war, dass ihr Vater als früherer Bauarbeiter Leute wegen Heizungen beriet.
Ihre Mutter wurde neben ihrer Tätigkeit als Bürokraft beim Bürgermeistes des Wohnortes nun auch in den Abendstunden Versicherungsvertreterin, da sich die westdeutschen Versicherungsfirmen die DDR sozusagen „aufgeteilt“ hatten. Das taten diese Firmen, da sie mit den Menschen der ehemaligen DDR einen weiteren großen Kundenstamm gewonnen konnten und die Versicherungen in Westdeutschland ganz anders als in der DDR gewesen waren. Im Gegensatz zur Zeit vor 1990 mussten sich die DDR-Bürger jetzt privat versichern. Ihre Mutter und auch ihre Tante, die hauptberuflich Kindergärtnerin war, kamen zu dieser Nebentätigkeit, weil andere Vertreter*innen sagten, dass sie sich an ihre Verwandten und Bekannten wenden und innerhalb dieses Kreises versuchen könnten die Versicherungen zu verkaufen. Das bekam Frau Schenk tatsächlich nur mit, da sie, als ihre Mutter gar nicht lange später mit dieser Nebenbeschäftigung aufhörte, mit dem übriggebliebenen Papierkram Büro spielte.
Ihr Onkel machte nach der Wende eine Gaststätte auf, weil er in der DDR bei der „Stasi“ gearbeitet hatte. Die Staatssicherheit war die Geheimpolizei und der Nachrichtendienst der DDR. Sie wurde im März 1990 aufgelöst, deshalb war der Onkel arbeitslos. Er betrieb die Gaststätte bis zu seinem Tod und danach wurde sie geschlossen. Weil Frau Schenk, als sie klein war, nicht wusste, welchen Beruf ihr Onkel vor der Wende ausgeübt hatte, war es für sie umso überraschender, dass jemand aus der Familie eine Gaststätte aufmacht.
Eine weitere Veränderung war, dass ihre Großmutter plötzlich eine ABM (Arbeitsbeschaffungsmaßnahme) machte, was in den Worten von Frau Schenk, „nicht Hartz IV, aber auch so ein Unterstützungssystem“ war. Viele DDR-Bürger nahmen nach der Wende an solchen Maßnahmen teil, weil ihre Betriebe geschlossen wurden. In Frau Schenks Familie wurde das aber nicht angesprochen, oder gesagt wie “gut“ oder wie „schlecht“ das war. Das Leben ging einfach weiter. Sie fragte erst sehr viel später nach, was zu dieser Zeit eigentlich los gewesen war oder was zum Beispiel ihr Onkel bei der Staatssicherheit gemacht hatte, worauf sie allerdings niemals eine konkrete Antwort erhalten hat.
In den Jahren 1997 und 1998 nahm sie an einen Austausch mit einer Klasse aus Wiesbaden teil und nahm gleich drei Schüler*innen aus der Austauschklasse bei sich auf dem Bauernhof auf. Diese waren überrascht, dass die Menschen in der DDR fließend Wasser und auch Strom hatten. Als Frau Schenk nachfragte, warum sie denn dachten, dass das nicht so sei, antworteten die Schüler, dass ihre Lehrerin gesagt hatte, dass „die Bedingungen auf dem Land in der DDR vielleicht nicht so gut wären“, also, dass vielleicht kein fließendes Wasser oder Strom vorhanden sein könnte.
Das war das erste Mal, dass Frau Schenk mit solchen Vorurteilen konfrontiert gewesen war. Für sie wurde diese Haltung während des Studiums oder in verschiedenen Situationen, als sie in die alten Bundesländer reiste, immer mal wieder deutlich. „Es war so, als wenn man nicht so viel wert war wie die anderen.“
Ich fand das Interview mit Frau Schenk sehr interessant, weil ich mir durch ihre Geschichten und Erlebnisse die Wendezeit sehr viel besser vorstellen kann. Mich haben die Vorurteile der Leute aus Westdeutschland sehr überrascht. Es war sehr nett, dass sie sich die Zeit genommen hat sich mit mir zu treffen und meine Fragen zu beantworten.