„Na, immer noch nicht Kandidat der SED?“
Ein Interview von Emma Poetzsch (Klasse 9a) mit Frau Wolff (Lehrerin für Sport und Biologie).
Ein Erinnerungsstück von Sybille Wolff über das Lehrer-Leben vor dem Mauerfall
Stell dir vor:
Wandertag monatlich – einmal im Monat müssen Lehrer mit ihrer Klasse etwas unternehmen.
Wirtschaft und Schule sind eng verzahnt – Betriebe übernehmen Patenschaften für ganze Schulklassen und begleiten Schüler bei der Berufswahl.
Flexible-Hilfe – in Lernkonferenzen besprechen Schüler und Lehrer gemeinsam, wie man schwächeren Schülern helfen kann.
Lehrer, Schüler und Eltern Hand in Hand – Lehrer besuchen regelmäßig die Elternhäuser der Schüler und schauen sich die Situation an, in der ihre Schüler leben.
Klingt das utopisch?
Im Gegenteil: Es ist nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit der Schule im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Eine deutsch-deutsche Erinnerung von Sybille Wolff, die ihre Lehrerinnen-Karriere in der DDR startete, und noch heute gut vor Augen hat, wie manche Dinge besser liefen und das heutige Bildungssystem von Elementen aus der damaligen Zeit vielleicht profitieren könnte. Wie z. B. durch die regelmäßigen Besuchen der Schülerfamilien zu Hause. „Das war eigentlich viel Arbeit, aber es hat sich wirklich ausgezahlt.“, sagt sie, denn dann wusste man als Lehrer von einigen Familien: „die haben es echt schwer“. Und in solchen Fällen konnte dann Rücksicht genommen werden, besser als dass heute der Fall ist. Oder durch die so genannten Lernkonferenzen, an denen Schüler, Eltern und (Fach-)Lehrer teilnehmen konnten. „Diese Lernkonferenzen waren ‘ne echt gute Sache.“, erinnert sich die Lehrerin für Biologie und Sport, wenn sie an das Schulsystem in der DDR denkt und dieses mit der Schule unter heutigen Rahmenbedingungen vergleicht. Ostdeutsche Lehrer hatten weniger Pflichtstunden, berichtet sie, und der Staat hatte eine gute Struktur für die Unterstützung von berufstätigen Eltern geschaffen. Auch, wenn regelmäßig am Samstag Unterricht stattfand, habe man Beruf, Familie, Freizeit- und Ehrenamtsaktivitäten besser miteinander vereinbaren können: „Das war ganz easy, da brauchte man sich von dieser Seite keine Gedanken zu machen.“
Schule als Raum für Politik
Doch es war nicht alles Gold, was glänzt. Denn neben den Erinnerungen, die die schönen Seiten in den Vordergrund stellen, gab es auch Elemente, die klar gegen eine selbstbestimmte Bildung und Erziehung in der Schule ausgerichtet waren: „Ich war nie in irgendeiner Partei“, erinnert sich Sybille Wolff, „und wir mussten trotzdem alle an einem Parteilehrjahr der SED-Genossen teilnehmen.“ Ausgerichtet vom Parteisekretär der Schule wurden politische Themen diskutiert und die Haltung der teilnehmenden Lehrer genau beobachtet. So erinnert sich Sybille Wolff an eine Kollegin, die einmal ehrlich zugab, dass die Themen sie nicht interessierten. Die Kollegin bekam eine klare Antwort: „Wenn Sie das so sehen, müssen wir uns leider von Ihnen als Lehrerin generell trennen.“ Für Sybille Wolff damals das Signal, dass sie durch ihre Teilnahme und stilles Zuhören ihren Beruf absichert, denn sie wollte unbedingt Lehrerin bleiben: „Das ist es nicht wert, dass man nicht Lehrer sein möchte.“, sagt sie auch heute noch.
Eine weitere Situation erinnert sie als „lästig“: In ihrer eigenen Schulzeit hatte regelmäßig eine Parteisekretärin vor der Schule gestanden und hätte alle Schüler, die vorbeigekommen seien, gefragt: „Na? Immer noch nicht Kandidat der SED?“ Als „Hardcore“ erinnert sie diese Form der Partei-Werbung heute. Gleichzeitig ist sie überzeugt, dass es schon möglich war, nicht alles mit zu machen, sondern dem auch aus dem Weg zu gehen. Für sie sei dieser Zwischenweg gut gewesen, auch mit Blick auf ihr Ziel, Lehrerin zu werden und zu bleiben.
Auch im Privatleben hatte die Partei SED durchaus eine Rolle gespielt. So war ihr Vater lange Mitglied in der SED und das sogar auf einer höheren Ebene bis er Anfang der achtziger Jahre austrat. Sein Rat an die Tochter: „Pass auf, das geht hier schief“, erinnert sie sich, „lass Dich nicht überreden, da rein zu gehen“. So hat sie ihre Haltung gefunden, nicht mitzumachen.
„Wir haben das gar nicht richtig geschnallt“
Den Mauerfall hatte Sybille Wolff erst einmal nicht richtig registriert und verstanden, was genau passiert und welche Bedeutung dieser Tag in ihrem weiteren Leben, vielleicht auch der Weltgeschichte haben würde. Heute sei es für sie auch kaum nachvollziehbar, ob sie die Nachrichten nicht richtig verfolgt habe, überlegt sie im Gespräch selbstkritisch. „Wir haben das gar nicht richtig geschnallt.“ Sie sei normal zur Arbeit gegangen, auch wenn sehr viele Schüler gefehlt hätten, weil sie mit ihren Familien zu dann offenen Grenzübergängen gegangen seien. „Wenn es an einem Montag gewesen wäre, wäre ich auch nicht nicht zur Arbeit gegangen“, überlegt sie in der Rückschau. So hatte sie erst das Wochenende am 11./12.11.1989 genutzt, um sich die dann geöffneten Grenzübergänge mit ihrem Mann anzusehen.
Im Sommer 1989 gingen immer mehr Menschen bei den so genannten Montagsdemonstrationen auf die Straße, um das politische System der DDR zu verändern. Diese friedliche Revolution ging dem Mauerfall voraus.
Frau Wolff und ihr Mann sind weder nicht Teil der „Vorbewegungen“, noch der friedlichen Revolution selbst gewesen, versucht sie in der Erinnerung zu erklären und warum sie die Auswirkung des Mauerfalls nicht klarer erkannt hatte. „Wir waren ganz zufrieden mit unserem Leben“, Schikanen hätte es von Seiten des Staates ihnen gegenüber nicht gegeben. Deshalb hatte es auch nur wenig Anlass gegeben, die friedliche Revolution aktiv mitzugestalten.
Im Gegensatz zur Erfahrung von Frau Wolff waren viele Menschen unter strenger Beobachtung des Staatssicherheitsdienstes. Dazu gehörten Berufsverbote, Bespitzelungen und Inhaftierungen.
„Westen – coole Klamotten“
Die Verbindung von Sybille Wolff zum Westen waren schöne Kleider. Die Kleider im Westen waren bunt und es gab „echte Jeans“, sagt sie im Interview. Wenn ihr Vater beruflich in den Westen reiste brachte er ihr manchmal Kleidung aus West-Berlin mit. Obwohl ihr Vater vor der Wende in den Westen konnte, hatte es für sie keine Möglichkeit gegeben, einmal nach Westdeutschland zu fahren. Zwar hatte die Mutter zwei Cousinen im Westen, doch hatte das nicht dazu geführt, dass es regelmäßige Besuche gab. „Das war so meine Connection: Westen – coole Klamotten“, sagt sie und lacht. Wenn ihr etwas aus dem Westen mitgebracht wurde, dann zumeist Kleidung oder Kassettenrekorder: „Das war der Renner.“
Als Sybille Wolff sich dann mit ihrem Mann nach dem Mauerfall das Begrüßungsgeld abholte, kauften sie für ihre Kinder jeweils einen Walkman und Kuscheltiere. „Blauweiß war der eine und schwarz-gelb der andere“, beschreibt sie diese. Walkmen waren die Vorläufer der heutigen MP3-Spieler, mit denen man unterwegs (Musik-) Kassetten hören konnte. Allerdings erinnert sie sich auch, dass sie nicht gleich beim ersten Anlauf das Geld abgeholt habe. „Alle standen da wie verrückt“, lacht sie bei der Erinnerung über die langen Schlangen, die es gegeben habe. Anstehen hätte besonders ihr Mann nicht leiden können. Da sie über den Grenzübergang Sonnenallee nach West-Berlin kamen, sind sie erstmal in Neukölln spazieren gegangen und haben das „Begrüßungsgeld“ später abgeholt.
„Mein erster Eindruck war ernüchternd“
Als die Grenze geöffnet war, ging Sybille Wolff mit ihrem Mann über die Sonnenallee in Neukölln zum ersten Mal in den Westen. Heute erinnert sie sich, wie sehr sie sich gewundert und gedacht hat: „Das soll der Westen sein?“
Ihre Hoffnung an ein Leben in der Bundesrepublik war, dass es im wiedervereinigten Deutschland weniger Ungerechtigkeit geben solle, „weniger der eine kann was, der andere nicht“. Zwar sei man in der DDR vor 1989 nicht verhungert und doch war deutlich, dass es Menschen gab, die eher an seltene Lebensmittel herankamen oder an Ersatzteile, die man dringend brauchte. „Wenn etwas kaputt ging, konnte man nicht einfach in einen Laden gehen und ein Ersatzteil kaufen“, erinnert sie sich heute. Die Wirtschaft in der DDR war so gelenkt, dass die SED entschieden hat, was und wieviel produziert wird. Das hatte zur Folge, dass viele Produkte des täglichen Lebens nicht immer verfügbar waren. So kam man zum Beispiel nur an ein Autoersatzteil ran, wenn man die richtigen Menschen kannte. Generell sei viel nur über Beziehungen – Vitamin B – möglich gewesen: „Ich hatte gedacht, dass es so was nicht mehr geben wird“, sagt Sybille Wolff etwas nachdenklich, „das war vielleicht naiv“.
Flucht? Keine Option
Mit ihrem Leben in der DDR war Sybille Wolff zufrieden. Auf die Frage, ob sie sich hätte vorstellen können, einen Ausreiseantrag zu stellen oder gar zu fliehen, sagt sie: „Das war für mich keine Option.“ Sybille Wolff hatte zu dem Zeitpunkt der Wende bereits zwei Kinder. Gerade mit Kindern fand sie das Risiko einer Flucht zu groß: „Niemals hätte ich meine Kinder dem ausgesetzt.“ Heute bewertet sie ihr Leben in Ostdeutschland so, dass es für sie auch keinen Anlass zur Flucht gegeben habe. Ihr Mann habe als Maschinenbauingenieur zwar schon Grenzen gespürt, die das System gesetzt habe. Dennoch: „Ich hatte Glück“, sagt die Lehrerin, sowohl in ihrer Kindheit, während des Studiums als auch später im Beruf habe sie ihre Vorstellungen immer ganz gut umsetzen können.
„Bis zum Zeitpunkt der Wende haben wir in einem wunderschönen Altbau gewohnt“, erinnert sich Sybille Wolff zurück, „da wären wir alt geworden“. Auf Grund von Sanierungsarbeiten mussten sie dann allerdings ausziehen. Daraufhin wies die Wohnungsverwaltung von Köpenick ihnen eine Wohnung zu. „Ein Betonklotz, 6 Etagen, an der Hauptstraße“, erinnert sie sich. „Wir hatten einen schönen Blick auf das Köpenicker Schloss. Das war aber auch das einzig Gute,“ denn Küche und Bad hätten nicht einmal ein Fenster gehabt, auch die Nachbarschaft war nicht einfach. Und so war klar, dass die Familie über kurz oder lang etwas Anderes suchen wollte. „Sieben Jahre nach der Wende waren wir dann so weit“, berichtet Sybille Wolff und erzählt von der Doppelhauhälfte in Adlershof, welche sie 1996 gekauft haben.
Die Familie hatte bis zu dem Mauerfall kein Telefon. „Das war auch ‘ne Katastrophe“, heute lacht sie darüber, auch über die Tatsache, dass man früher einen Antrag stellen musste, um überhaupt ein Telefon zu bekommen: „Das war der Hammer.“ Und doch befand sich Sybille Wolff in guter Gesellschaft, denn zum Zeitpunkt der Wende hatten 94% der Haushalte in der DDR keinen Festnetzanschluss. Zum Vergleich: Zur gleichen Zeit waren in Westdeutschland bereits 90% der Haushalte mit einem Telefon ausgestattet.
In Bezug auf ein Auto hatte die Familie Glück: Frau Wolff machte bereits mit 18 ihren Führerschein. Viele andere mussten jahrelang auf diese Gelegenheit warten. Da die Schwiegereltern zu dem Zeitpunkt einen neuen Trabant kaufen konnten, kaufte sie ihren Schwiegereltern den alten Trabant ab. Ihre Schwiegereltern mussten 13 Jahre auf ihren neuen Trabant warten. Dass das so unkompliziert ablief, war ungewöhnlich: 1988 gab es in der Deutschen Demokratischen Republik, kurz DDR, 3,7 Millionen zugelassene PKW bei einer Einwohnerzahl zu diesem Zeitpunkt von etwa 17 Millionen Menschen. Zur gleichen Zeit waren in der Bundesrepublik Deutschland, 35 Millionen PKW zugelassen bei einer Einwohnerzahl von insgesamt 61 Millionen Menschen.
„Einen Schwarz-Weiß Fernseher hatten wir. Den hatten wir auch von Anfang an“, erzählte Frau Wolff. Ihrer Erzählung nach gab es beim Kauf von Fernsehern auch kein Problem. „Wir sind in einen Laden gegangen und haben einen Fernseher gekauft.“ Auch Urlaube konnte sich die Familie leisten: Wenn Frau Wolff damals mit ihren Eltern in den Urlaub gefahren ist, dann nach Bulgarien und Ungarn. „Zum Skifahren sind wir jedes Jahr ins Riesengebirge gefahren. Meistens nach Tschechien oder Polen“, erzählt sie von den späteren Urlauben mit ihrer Familie. Heute, sagt sie, fahre sie lieber in die Alpen. Außerdem mochte und mag sie sie Ostsee sehr gerne, heute wie damals. „Das geht immer“.
Kurzbiografie
Sybille Wolff wuchs in der DDR auf und war zum Zeitpunkt der Wende 31 Jahre alt. Sie hatte Lehramt für Sport und Biologie studiert und arbeitete als Lehrerin. Mit ihrem Mann, einem Maschinenbauingenieur, hatte sie damals bereits zwei Kinder. Neben der Arbeit und den Kindern engagierte sich Frau Wolff als Übungsleiterin in einem Sportverein. Sie war in Köpenick aufgewachsen, ihr Vater war im Ministerium für Wissenschaft und Technik und leitete die Abteilung „Zentralstelle für Forschungsbedarf“. Ihre Mutter arbeitete auch dort und war Referentin, die Verträge vorbereitete und Vorgänge ordnete.