„Das war Anarchie nach dem Mauerfall.“
Ein Interview von David Tonke (Klasse 10a) mit Herrn Schlüter (Lehrer für Geografie und Geschichte).
„Ich und mein Freundeskreis wollten gar nicht, dass die DDR aufgelöst wird. Wir wollten ja hierbleiben. Die DDR war das Land, in dem wir aufgewachsen sind, außerdem hatten wir auch Vorurteile gegenüber der Bundesrepublik: Wir hatten eher gehofft, dass sich nach dem Mauerfall die DDR zu einer Alternative zur Bundesrepublik entwickelt“.
Herr Schlüter wurde 1972 geboren und wuchs in Schwerin auf. Mit 17 beendete er die Schule und begann eine duale Ausbildung, in der er zum Landmaschinenschlosser asugebildet wurde und parallel dazu sein Abitur ablegte. Für ihn war es ein großes Glück seinen Abschluss machen zu können, dass die Wiedervereinigung kam und er nicht zum Wehrdienst musste, sondern einen Zivildienst leisten konnte. Er hatte damals eine klare Einstellung dem Wehrdienst mit der Waffe gegenüber und hätte es sich höchstens vorstellen können den Wehrdienst als Bausoldat zu absolvieren. Bausoldaten waren zwar auch Angehörige der Nationalen Volksarmee der DDR, konnten aber den Dienst an der Waffe verweigern, was aber oft Nachteile für den weiteren Lebensweg haben konnte. In seiner frühen Jugend versuchte Herr Schlüters Vater für seinen Sohn alle Wege offen zu halten, da dieser genau wusste, dass man als Jugendlicher etwas gegen den Strich gebürstet sein konnte. Sein Vater hatte nämlich selbst schon einmal im DDR-Gefängnis gesessen und wollte, dass sein Sohn nicht die gleichen Fehler macht und mit dem System aneinander gerät.
Herr Schlüter nahm als Jugendlicher an den Veranstaltungen der üblichen politischen (Jugend-) Organisationen teil, wurde gelichzeitig aber auch noch konfirmiert. Ein Parteieintritt oder Ähnliches stand für ihn außer Frage, er fand schon die Wehr- Tage und Wochen in der Schule nicht sonderlich zeitgemäß und zu systemtreu.
Er hatte persönlich nie Schwierigkeiten mit dem System. Seine Eltern, die in einer staatlichen Institution arbeiteten, wurden aber aufgefordert den Kontakt mit ihren Verwandten in der Bundesrepublik abzubrechen. Als sie das jedoch verweigerten, musste sein Vater und seine Mutter ihren Beruf als Kartographen aufgeben, den sie studiert hatten.
In der Zeit der Teilung der beiden deutschen Staaten hatte seine Familie Verwandte im Westen, mit denen die Familie nicht nur Kontakt hatten, sondern welche sie ab und zu besuchten und Produkte aus dem Westen mitbrachten: Wie zum Beispiel Kleidung und Spielzeug. Außerdem bekamen sie von ihren Verwandten auch oft 25 Mark (der DDR) geschenkt, da man bei der Einreise in die DDR als Bürger der Bundesrepublik 25 D(-eutsche) Mark in 25 Mark der DDR umtauschen musste, um die DDR mit westlichen Devisen zu versorgen. Viele Westdeutsche konnten diese Geldsumme aber während ihres Besuches gar nicht ausgeben.
Da sie eine große Anzahl von Verwandten in der Bundesrepublik hatten, achteten seine Eltern darauf, dass jedes Kind immer einen Patenonkel oder eine Patentante in der Bundesrepublik zugedacht bekam. So bekamen diese zur Konfirmation, zur Jugendweihe und zum Geburtstag regelmäßig westdeutsche Produkte geschenkt.
Damals war es etwas Besonderes Gegenstände aus dem Westen zu besitzen, da es westliche Produkte nur in speziellen Geschäften und zu hohen Preise zu kaufen gab. Das sozaialistische Gesellschaftssystem wollte nämlich eine möglichst materiell einheitliche Gesellschaft schaffen, um ein Gefühl der Gerechtigkeit zu vermitteln.
Nach dem Fall der Mauer brach jedoch der Kontakt zu vielen ehemaligen „West-Verwandten“ ab und das Interesse an der westlichen Alltagswelt war nicht mehr so groß, da man nun selber die Möglichkeit hatte dorthin reisen zu können.
Herr Schlüter erfuhr erst sehr spät durch Familie und Rundfunk von der Öffnung der Grenze und wollte natürlich möglichst bald in die Bundesrepublik reisen.
Er besorgte sich ein Visum und fuhr dann am ersten Sonntag nach dem Mauerfall direkt nach Lübeck. In der Bundesrepublik angekommen, kaufte er sich als Erstes von seinem Begrüßungsgeld einen Ghetto-Blaster, den ein guter Freund von ihm auch besaß, um Musik aus dem Radio auf Kassetten aufzunehmen, da es in der DDR aus seiner damaligen Sicht kaum „gute“ Musik zu kaufen gab. Heute ist er aber der Meinung, er hätte die DDR-Musik erst nach der Wiedervereinigung zu schätzen gelernt, da sie als Jugendliche der Überzeugung waren, dass jeder, der im DDR-Radio gespielt wird, ja ein Unterstützer der DDR seien müsse. An meinen ersten Tag in der Bundesrepublik, erzählte er, „erinnere ich mich noch genau. Wir waren zum ersten Mal in einem Fastfood-Restaurant essen. Das Essen war zwar nicht besonders gut, aber eben etwas Westliches“.
Nach dem die Mauer gefallen war wollten Herr Schlüter und seine Freunde damals gar nicht, dass der Osten verwestlicht wird. Sie waren mehr für den damals so bezeichneten „Demokratischen Sozialismus“ als für eine „zweite Bundesrepublik“ auf dem Gebiet der DDR.
Herr Schlüter erzählte auch, dass er und seine Freunde zu dieser Zeit sehr stark politisch engagiert waren. Sie haben unter anderem auch die Junge Union (Jugendorganisation der CDU) kennengelernt, aber nicht viel von ihr und der Idee einer Wiedervereinigung gelhalten, sondern mehr mit der Grünen-Bewegung sympathisiert.
Überrascht hatte Herrn Schlüter der Mauerfall sehr. Herr Schlüter erzählte, dass es heute immer so wirke, als hätte sich das Ganze angedeutet, doch damals hätte niemand damit gerechnet. Es gab ja keine große Revolution, sondern eher ein enormes Aufbegehren, beinahe der gesamten Bevölkerung der DDR. Er selbst hat sogar an einigen Demonstrationen teilgenommen, obwohl ihn sein Vater gewarnt hatte. Für ihn und viele andere war klar: Wenn die Mauer fällt kann man die DDR so, wie sie ist, gleich auflösen.
Für seine Familie lief der Übergang in ein vereintes Deutschland im ganz Gegensatz zu vielen anderen Familien ganz gut. Mit der Wiedervereinigung wurden viele Menschen arbeitslos, da viele Bürger der ehemaligen DDR, die auf den Staat angewiesen waren oder für ihn arbeiteten, plötzlich keine Arbeitsplätze mehr hatten und auch kaum Hilfe bekamen.
Er meinte, sie hatten wohl Glück, dass seine Familie nie staatsnah war und sich teilwiese sogar von der DDR distanziert hatte wodurch seine Mutter einfach wieder in ihrem alten Beruf arbeiten konnte. Sein Vater war sogar nach dem Mauerfall Minister in der Regierung Modrow bis zu den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. 03.1990, weil er die Umweltbewegung am „Runden Tisch“ vertrat. Der „Runde Tisch“ wurde eingesetzt, um der Bevölkerung der DDR von Anfang Dezember 1989 bis zu den Wahlen im März 1990 ein Mitspracherecht und Regierungsverantwortung zu gewähren. Als dann gewählt wurde, interessierte sich Herr Schlüter zum ersten Mal für Wahlen innerhalb der DDR und beobachtete auch die damals erste öffentliche Stimmenauszählung.
Nach dem er mit seiner Ausbildung fertig war reiste er mit einem günstigen Interrail-Ticket, welches die Möglichkeit bot mit dem Zug überall innerhalb von Europa und in Teile von Nordafrikas zu reisen, nach Marokko und dann in andere Länder in Europa, die er früher nicht bereisen konnte.
Einen Aspekt, den ich an seiner Erzählung sehr spannend fand, ist, dass von ihm beschriebene Fernweh, welches man heute kaum noch kennt, da wir fast überall hinreisen können. Doch damals war es für die Menschen in der DDR eine ganz neue Erfahrung in ferne, exotische Länder reisen zu können. Herr Schlüter verbrachte nach seinen ersten großen Reisen ein Jahr in Papua-Neuguinea und kehrte dann nach Deutschland zurück und widmete sich dort seinem Beruf.
Auf die Frage, was er denn aus heutiger Sicht noch zum Mauerfall und der darauffolgenden Zeit sagen kann, antwortete er, dass die DDR gleichberechtigt in das dann vereinte Deutschland hätte aufgenommen werden sollen. Die DDR trat am 03.10.1990 offiziell dem Rechtsgebiet des Grundgesetzes bei, in der Praxis wurde sie damals praktisch dem Bundesgebiet angegliedert, obwohl diese stake infrastrukturelle Mängel hatte. Damals hätte er sich eine alternative DDR gewünscht. Heute ist er doch ganz froh, dass es nicht so gekommen ist.
Herr Schlüter sagt rückblickend, dass diese Zeit die Beste seines Lebens war, da die Erwachsenen sich in dem neuen System erst orientieren mussten und die Jugendlichen, die nur das strikte DDR leben kannten, plötzlich frei waren.
Herr Schlüter sage sogar, dass damals so etwas wie Anarchie für die Jugendlichen geherrscht habe, da es für diese keinen Leitfaden durch das neues System gab. Viele Eltern konnten in ihrer Orientierungslosigkeit im neuen System der Jugend keine Regeln mehr auferlegen. Zu dieser Zeit schlossen sich viele Jugendliche ultralinken oder -rechten Gruppen an, da diese ihnen wieder einen politischen Halt gaben. Umgangssprachlich gab es damals laut Herrn Schlüter eigentlich nur „Glatzen“ und „Zecken“, was schnell zu einem Problem wurde, mit dem das junge, vereinte Deutschland zu kämpfen hatte.
Abschließend würde ich sagen, dass wir von dieser Generation viel lernen können, da es heute überall auf der Welt große Umbrüche in der Gesellschaft und ihrem Denken gibt und wir uns immer wieder zurecht finden müssen ohne vom Weg abzukommen und dass bei all den guten und schlechten neuen Möglichkeiten, die sich uns jeden Tag bieten.